Tod auf der Straße

Im brasilianischen São Paulo häufen sich die Morde an Obdachlosen. Menschenrechtsaktivisten vermuten die Täter im rechtsextremen Milieu. von nils brock

Die 54jährige Obdachlose Shirley de Morais bettet sich jeden Abend auf der getrockneten Blutlache ihrer kürzlich ermordeten Freundin. Wie sie sich denn dabei fühle, wollten die Reporter der Zeitung Folha de São Paulo wissen. Angst habe sie. »Aber wir bekreuzigen uns ja.«

Seit nunmehr drei Wochen häufen sich in der brasilianischen Metropole die Übergriffe auf die »sem-tetos«, die ohne Dach. Im Abstand von drei Tagen wurden vor den Stufen der Kathedrale 14 Menschen im Schlaf mit einem großen hammerartigen Gegenstand angegriffen. Sechs der Opfer erlagen den Schädelverletzungen, weitere vier schweben noch in Lebensgefahr. Wenige Tage später schoss ein Mann an der gleichen Stelle auf eine Gruppe von Obdachlosen, die unverletzt entkommen konnten. Im Osten der Stadt wurde ein Wohnungsloser von einer Bombe verwundet.

Die prekäre Lage der Obdachlosen ist längst wieder zur Nebensache geworden und hat bestenfalls Sensationswert. Die Lokalpolitiker gaben sich bestürzt, der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva attestierte den Tätern eine »unerklärliche Geisteskrankheit«. Doch der Ombudsmann des präsidentiellen Menschenrechtskomitees Pedro Montenegro glaubt nicht an einen geistesgestörten Einzeltäter: »Die systematische Natur dieser Verbrechen lässt keinen Zweifel daran, dass es sich hier um die Arbeit einer organisierten Gruppe handelt.«

Seit vielen Jahren greifen Rechtsextremisten immer wieder sozial Marginalisierte an. Ein Bericht von Amnesty International stellte im Mai dieses Jahres fest, dass in vielen brasilianischen Bundesstaaten Todesschwadrone weiterhin »soziale Säuberungen« durchführen.

Die Polizei von São Paulo hält aber an einer Theorie fest, nach der zumindest die Morde vor der Kathedrale auf das Konto von Dealern aus dem Obdachlosenmilieu gehen. Offiziell gibt man zwar vor, mehrere Spuren zu verfolgen. Nach Recherchen von Folha de São Paulo wollen die Ermittler jedoch vor allem mit in die Priesterszene eingeschleusten V-Männern die Morde aufklären. Denn die »Bewohner der Straße« – so der politisch korrekte brasilianische Ausdruck – waren bislang nicht bereit, der Polizei Auskunft zu geben. Einzig Padre Júlio Lancelotti vom Pfarramt »Arme der Straße« wollen sich zwei Zeugen jetzt noch einmal anvertrauen.

Vielleicht stützen sie dann frühere Aussagen, welche von einer Gruppe Neonazis in einem schwarzen Opel berichteten, die mit Holzlatten und Besenstielen vorgefahren seien. Diese Schilderungen fanden erst Beachtung, seit auch Hédio Silva Júnior von der brasilianischen Anwaltsvereinigung OAB erklärte, dass für die Morde wahrscheinlich »intolerante Gruppen wie zum Beispiel Skinheads« verantwortlich seien. Die Obdachlosen sind schon seit längerem erklärtes Angriffsziel rechter Propaganda. Bereits im April machte eine anarchistische Gruppe darauf aufmerksam, dass an der katholischen Universität faschistisches Propagandamaterial verteilt werde, in dem die Land- und Obdachlosenbewegungen als »neue Träger eines goldenen Imperialismus« denunziert würden.

Dass die Verfasser solcher Traktate gefährlich sind, haben sie bereits zu Anfang dieses Jahres bewiesen. Im Februar traten 18 Mitglieder der Gruppe ABC-Glatzen auf dem Platz der Republik einen Homosexuellen zu Tode. Doch die Bürgermeisterin Marta Suplicy erstickte vorerst alle noch offenen Fragen in einem dreitägigen Trauerritual und schlug vor, notfalls alle Obdachlosen von São Paulo zu ihrem Schutz in Hotels und Herbergen unterzubringen. Dass die Stadtverwaltung bereits 10 000 Einzelzimmer reserviert hat, wurde insdes nicht bestätigt.