Dörfer unter Arrest

Atomkraftgegner erwarten für November den nächsten Castortransport ins Wendland. Dort können dann wieder die Grundrechte außer Kraft gesetzt werden. von heiko balsmeyer

Wenn es Herbst wird, rollen die Castoren. Das niedersächsische Wendland verwandelt sich in ein Gebiet des polizeilich kontrollierten Ausnahmezustandes. Denn hier wird der Atomkonflikt ausgetragen.

Die Aktivitäten und die Ziele der an der Auseinandersetzung Beteiligten sind klar. Die Polizei wird den Transport des Atommülls aus La Hague mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln durchsetzen. Die Anti-Atom-Aktivisten werden mit kreativen Methoden versuchen, Trainstopping zu betreiben. Mehr oder minder erfolgreich werden sie an einigen Stellen die Schienen und die Straßen zum Zwischenlager Gorleben blockieren.

Die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg rechnet in der Woche vom 13. bis zum 20. November mit dem nächsten Transport, für den 13. November ist eine Auftaktdemonstration geplant. Allerdings weiß der Sprecher der Bürgerinitiative, Francis Althoff, bislang noch nichts über Urlaubssperren bei der Polizei, anhand deren sich der Zeitraum, in denen der Transport stattfindet, gut einschätzen lässt.

Voraussetzung für den großen Spielraum der Polizei im Wendland ist die Einschränkung des vom Grundgesetz gewährten Demonstrationsrechts. »Reise ans Ende der Demokratie« nennt das Komitee für Grundrechte und Demokratie seine Broschüre, in dem die Eindrücke vom Castortransport im vergangenen Jahr dokumentiert sind.

Die Eröffnung der Auseinandersetzung erfolgt alljährlich mit einer Allgemeinverfügung der Bezirksregierung Lüneburg. Darin wird das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit an der Transportstrecke eingeschränkt. In einem Korridor von 50 Metern um die Transportstrecke – an neuralgischen Punkten wie der Verladestation und dem Zwischenlager ist die Zone größer – sind sämtliche Versammlungen verboten. Als Begründung dafür müssen stets realitätsferne Prognosen über mögliche Gewalttaten herhalten.

So wurden in der Allgemeinverfügung aus dem vergangen Jahr zum Beispiel Textilien zu Gewaltindikatoren. Dass gefährliche Personen an ihrer Kleidung zu erkennen seien, hatte man aus den Beobachtungen bei einer Sitzblockade geschlossen. Man verwies auf »zahlreiche Personen, die nach ihrer Bekleidung (schwarze Vermummung) und ihrem Verhalten als gewaltbereit einzuschätzen waren«. Es folgten eine ausführliche Aufzählung von Scharmützeln, zerstochenen Reifen an den Autos so genannter Konfliktmanager und verbogenen Schienen sowie bizarre Schilderungen wie diese: »Ein Demonstrant warf sich plötzlich mit dem Rücken auf die Motorhaube eines stehenden Polizeifahrzeuges und täuschte Verletzungen vor.« Dabei wird dem Komitee zufolge »selbst den nachhaltig gewaltfreien Sitzblockadeaktionen Gewalt unterstellt«.

Die Autoren der Studie, Wolf-Dieter Narr und Elke Steven, stellen fest: »Nahezu alle und auf jeden Fall alle Allgemeinverfügungen anlässlich geplanter Demonstrationen rund um Gorleben waren so mangelhaft begründet, dass sie nicht hätten ausgesprochen werden dürfen.« Die Richtigkeit der Gewaltprognose dementierte sogar der Einsatzleiter der Polizei, Friedrich Niehörster, auf der Abschlusspressekonferenz nach Ankunft des Atommülls in Gorleben. Nach seiner Einschätzung sei alles »friedlich, sympathisch und fair verlaufen«, hieß es in einer Presseerklärung.

Doch diese Aussage wird die Bezirksregierung Lüneburg sicherlich nicht daran hindern, auch in diesem Jahr wieder eine Allgemeinverfügung mit einer Liste von Indizien für die gewünschte Gewaltprognose vorzulegen. Auf der Grundlage dieser Allgemeinverfügungen operieren schließlich die Polizei und der Bundesgrenzschutz, der im Wendland bereits wie eine Bundespolizei auftritt. Er verbietet Proteste nach polizeilichen Erwägungen, ergreift polizeiliche Maßnahmen, spricht Verbote aus oder nimmt Bürger in Gewahrsam.

Besonders heftig reagierte die Polizei im vorigen Jahr auf eine überraschende Aktion in dem Ort Quickborn. Dort wurde kurz vor Durchfahrt des Castors eine klebrige Flüssigkeit auf die Straße gegossen. Die Lastwagen mussten anhalten, kurzfristig hatte die Polizei die Kontrolle über die Situation verloren. Einige der Aktivisten konnten wieder verschwinden, andere wurden auf der Straße festgehalten.

Im Gegenzug stürmten Polizeibeamte das Gemeindehaus von Quickborn. Sie riegelten das Kirchengelände ab und nahmen alle Personen fest, die sich auf dem Gelände befanden. Begründet wurde das harte Vorgehen mit einer Reihe von Vorwürfen: »gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, Nötigung, Körperverletzung, Widerstand und Landfriedensbruch«.

Auch in den Dörfern Grippel und Laase, die in der Nähe des Zwischenlagers liegen, ging die Polizei in der Nacht vom 11. auf den 12. November 2003 kompromisslos vor. Gegen Mitternacht kesselte sie in Grippel alle auf den Straßen greifbaren Menschen ein – es waren rund 600 – und nahm sie sofort in Gewahrsam. Dabei machte es keinen Unterschied, ob sich die Personen in oder außerhalb der 50-Meter-Verbotszone aufhielten. Zuvor wurde weder die Versammlung aufgelöst noch dazu aufgefordert, sie zu verlassen. Die Ingewahrsamnahmen wurden aber mit einem Verstoß gegen das Versammlungsrecht begründet.

In Laase wurden das gesamte Dorf und auch eine Kulturveranstaltung, die außerhalb der Verbotszone in einem kleinen Zelt stattfand, vollständig eingekesselt. Rechtsanwälte durften nicht zu den festgehaltenen Personen, die Bürger konnten weder ihre Häuser verlassen noch andere Häuser betreten. Die Ortsausgänge waren abgeriegelt, es ging weder rein noch raus. Die Rechtsanwältin Ulrike Donat, die gegen das Vorgehen der Polizei eine Fortsetzungsfeststellungsklage einreichte, sprach von einer »Ausgangssperre, die als militärische Maßnahme im zivilen Polizeirecht keine Rechtsgrundlage hat«.

Das niedersächsische Innenministerium schrieb in seiner Antwort auf eine Petition des Komitees für Grundrechte und Demokratie, es habe »keine praktikablen Kriterien« gegeben, »anhand derer etwa zwischen einem normalen Nachbarbesuch oder einer als Nachbarbesuch deklarierten Teilnahme einer verbotenen Versammlung hätte unterschieden werden können«. Wer sich also im Herbst im Wendland aufhält, macht sich verdächtig und muss jederzeit mit einer Festnahme rechnen.

Für die Durchsetzung des Atomtransportes werden die Grundrechte der Demonstranten und der Anwohner suspendiert. Wolf-Dieter Narr und Elke Steven resümieren: »In Sachen Demonstrationsrecht und seiner Praxis (…) sind die grundrechtlichen Rechtsstaatsgarantien und die in ihnen beschlossenen Möglichkeiten bürgerlichen Sich-zur-Wehr-Setzens erheblich ausgehöhlt worden.«

Komitee für Grundrechte und Demokratie: Reise ans Ende der Demokratie. Köln 2004, 120 S., 8 Euro.

www.grundrechtekomitee.de