Kesseln auf Zeit

Die erste Schadensersatzklage gegen das Land Berlin wegen der unrechtmäßigen Einkesselungen am 1. Mai 2001 endete mit einem Vergleich. von daniél kretschmar

Claudia S., die heute 30jährige Klägerin, ist nicht zufrieden mit dem Vergleich, der das Land, vorbehaltlich der Zustimmung des Finanzsenators und des Polizeipräsidenten, verpflichtet, sie mit 40 Euro zu entschädigen. Acht Stunden lang war ihr in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 2001 die Freiheit entzogen worden, und jetzt übersteigen die Kosten des Verfahrens, die größtenteils zu ihren Lasten gehen, die Zahlung. Auch wäre eine gerichtliche Feststellung der generellen Unrechtmäßigkeit ihrer Ingewahrsamnahme von größerer Bedeutung gewesen als die bloße Rüge für die unverhältnismäßig lange Dauer der Maßnahme gegen sie.

Genau das aber wollte die 13. Zivilkammer des Landgerichtes Berlin nicht. Bereits das Amtsgericht hatte mit einem Urteil zum selben Fall im Februar dieses Jahres die generelle Zulässigkeit eines Polizeikessels zur Gefahrenabwehr anerkannt und lediglich die Dauer für unzulässig erklärt.

Dass sich das Festhalten unbeteiligter Personen, so genannter Nicht-Störer, im Falle von Krawallen zumindest im Grenzbereich missbräuchlicher Grundrechtseinschränkung bewegt, wurde somit von den Gerichten nicht beachtet. Ebenso wenig war der Anteil der umstrittenen Polizeistrategie an der Eskalation an diesem 1. Mai in Kreuzberg Thema, weshalb Claudia S. Beschwerde gegen die Entscheidung des Amtsgerichts eingelegt hat.

Am 6. Mai 2001 rechtfertigte der damalige Innensenator Eckhart Werthebach (CDU) im Interview mit dem Berliner Tagesspiegel das Verbot der revolutionären 1. Mai-Demonstration und das damit verbundene harte Vorgehen der Polizei am Abend des 1. Mai in Kreuzberg mit den Worten, dass es kein »Grundrecht auf Krawall« gebe. »Recht darf Unrecht nicht weichen«, sagte er.

Nach friedlich verlaufenen Kundgebungen und Demonstrationen im Laufe des Tages, inklusive eines mit großem Polizeiaufgebot geschützten Aufzuges der NPD in Berlin-Hellersdorf, war es in den frühen Abendstunden am Mariannenplatz zu schweren Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Besuchern verschiedener Maifeierlichkeiten gekommen. Im Verlauf der Straßenschlacht schlossen Polizeibeamte einen Ring um mehrere hundert Personen. Die meisten der Eingekesselten wurden in Gefangenensammelstellen gebracht, erkennungsdienstlich behandelt und erst in den frühen Morgenstunden des 2. Mai wieder auf freien Fuß gesetzt. Den Straßenschlachten vorausgegangen war die polizeiliche Räumung des gesamten Bereiches der Oranienstraße von der Kreuzung Adalbertstraße bis zum Heinrichplatz, ausgerechnet in Richtung des Mariannenplatzes. Dort fand zu dem Zeitpunkt ein Familienfest statt, das zeitweise von mehreren tausend Menschen besucht wurde und bis dahin ohne Zwischenfälle verlief.

Das Argument des Anwalts Ulrich Franz, der für das Land Berlin sprach, Claudia S. hätte als Berlinerin wissen müssen, dass sie sich mit der Teilnahme an dem Fest der Gefahr aussetzte, in Krawalle und somit auch in die entsprechenden Maßnahmen der Polizei verwickelt zu werden, erscheint auf den ersten Blick absurd. Immerhin ist unbestritten, dass die Auseinandersetzungen um den 1. Mai seit dem Abtreten Werthebachs und mit der »Deeskalationsstrategie« des rot-roten Senats an Intensität verloren haben. Sich trotzdem aus dem Frontstadt-Vokabular des früheren Innensenators zu bedienen, liegt jedoch im Trend, bleibt der 1. Mai doch weiterhin ein Prüfstein für die Durchsetzungsfähigkeit der Inhaber des Gewaltmonopols.

Die in diesem Jahr gefällten harten Urteile gegen Steinewerfer – zum Beispiel 38 Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung für einen einzigen Steinwurf – lassen deutlich erkennen, dass die Worte vom harten Durchgreifen gegen »Störer« kein leeres Gerede sind. Kollateralschäden bei den Polizeieinsätzen werden in Kauf genommen, und zwar bitteschön ohne das Risiko, anschließend dafür gerichtlich belangt zu werden.

Es geht ums Prinzip. Auf der einen Seite ist Ulrich Franz, der Anwalt des Landes, bereit, im Fall Claudia S. erneut in die Beweisaufnahme zu treten, um dem Gericht anhand von Zeugenaussagen und Polizeivideos den angeblichen Kriegszustand in Kreuzberg vorzuspiegeln und die Notwendigkeit bestimmter polizeilicher Maßnahmen zu begründen. Auf der anderen Seite betreibt ihr Anwalt Alexander Paetow im Namen der Klägerin ein Verfahren, dass zwar keine Aussicht auf eine nennenswerte Entschädigung bietet, dafür aber im Falle eines Erfolges die Polizeitaktik, größere Menschengruppen einzukesseln, aus denen heraus beispielsweise Steine geworfen werden, praktisch illegal machen würde.

Als positives Beispiel zieht Paetow ein Urteil des Oberlandesgerichts Bremen hinzu, das auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention die vorbeugende Ingewahrsamnahme unbeteiligter Personen für unzulässig erklärt hat. Auch kurzfristig dürfen eben nur der »Störung« Verdächtigte festgehalten werden und nicht solche Personen, von denen allenfalls angenommen wird, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt »Störer« werden könnten.

Die rund 90 im Berliner Kessel Eingeschlossenen, die vor dem Amtsgericht geklagt haben, gelten somit weiterhin als potenzielle Gewalttäter. Paetow sieht die Urteile und den Vergleich ambivalent. Viel mehr als warme Worte seien in dem konkreten Fall nicht gewonnen worden, vielleicht eine Steigerung des Drucks auf die Polizei, die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen genauer zu überprüfen. Und nicht zuletzt zumindest eine kleine Genugtuung für seine Mandantin.

Vorläufig darf die Berliner Polizei weiterhin kesseln, bloß nicht mehr ganz so lange, und das Ziel, die Ordnung – aber welche? –aufrechterhalten zu wollen, wird als Begründung für weitere Grundrechtseinschränkungen herhalten müssen.

Doch selbst ohne überzogene Sicherheitsmaßnahmen und anhängige Klagen ist der 1. Mai immer für eine ordentliche Panne gut. Auf den Fahndungsplakaten, mit deren Hilfe die Polizei »Störer« des 1. Mai 2004 in der ganzen Republik suchen lässt, findet sich auch das Bild eines Unbeteiligten. Im Polizeipräsidium sind jetzt Beamte damit beschäftigt, per Hand dessen Gesicht auf über 5 000 Plakaten zu schwärzen.