Sachse, komm zurück!

Die Republikflucht dauert an. Der Osten verwaist und vergreist. Es droht ein demographisches Fiasko. von fabian sänger

1¥??enburg-Vorpommern versucht man es mit etwas, das man dort für poppig-modernen Zeitgeist hält. »mv4you« heißt die von Arbeitsminister Helmut Holter (PDS) ins Leben gerufene Agentur gegen Abwanderung. Die Landesregierung in Schwerin befürchtet in den nächsten Jahren einen dramatischen Fachkräftemangel, weshalb die Agentur auch mit Geld aus der Staatskasse ausgestattet wird. Zwar traut man der Agentur nicht zu, Jugendliche am Rübermachen Richtung Westen zu hindern, aber man hofft immerhin, sie wieder zurückholen zu können. »Wer weggeht, wird nicht vergessen«, ist das heimelige Motto der Organisation. Denselben Ansatz verfolgt eine entsprechende Rückholagentur in Sachsen, die sich kulturell jedoch ein wenig piefiger gibt: »Sachse, komm zurück«, nennt sich die Agentur, die durch eine Initiative der Industrie- und Handelskammer Dresden zustande kam.

Während in Neufünfland also um jeden Emigranten gekämpft wird, hat Bundespräsident Horst Köhler den Osten schon abgehakt. Das werde eh nichts mehr mit der Angleichung der Lebensverhältnisse, offenbarte er neulich und dürfte damit die Ausreisewelle nicht gerade abgebremst haben. Und so geht der Ost-West-Transfer denn auch munter weiter. Zwischen 1991 und 2003 sind mehr als zwei Millionen Ostdeutsche in die alten Bundesländer gezogen, etwa genauso viele wie zwischen DDR-Gründung und Mauerbau. In den ersten zwei Jahren nach der Maueröffnung waren es über 800 000; es gibt auch Statistiken, die von 1,2 Millionen oder mehr ausgehen. Insgesamt sind bis heute also rund drei der ehemals 16,7 Millionen DDR-BürgerInnen nach Westdeutschland umgezogen.

Es gab allerdings auch den umgekehrten Fall, den Umzug in den Osten. Ausgehend von den recht unterschiedlichen verfügbaren Zahlen kann man von einer geschätzten Nettoabwanderung von 1,2 Millionen sprechen. Allerdings kommt zu der Abwanderung auch noch die nachlassende Geburtenrate hinzu. Wodurch sich die Bevölkerungszahl in Ostdeutschland ebenfalls weiter reduziert. Außerdem muss bedacht werden, dass weit über die Hälfte der Ostflüchtlinge im Alter zwischen 18 und 30 Jahren und nur neun Prozent 50 Jahre oder älter sind. Alles in allem wird der Osten also bei andauernder Entwicklung mit der Zeit vergreisen. War zu DDR-Zeiten der Bevölkerungsdurchschnitt im Osten jünger als in der BRD, so ist es heute umgekehrt. Am höchsten war der Wanderungssaldo natürlich direkt nach dem Mauerfall. Bis zum Jahr 1997 nahm die Zahl stetig ab, seitdem steigt sie wieder an.

»Nach der Völkerwanderung passte die südfranzösische Stadt Arles komplett in ihr eigenes Amphitheater, so entvölkert war sie. Passt nach dem Ende der Abwanderung die ostdeutsche Stadt Jena komplett auf ihr legendäres Ernst-Abbe-Sportfeld?«, fragte im April die Frankfurter Allgemeine Zeitung ein wenig spöttisch. Dabei ist Jena eine Ausnahme. Dort gibt es sogar ein Bevölkerungswachstum. Städte wie Rostock, Schwerin, Görlitz und Zwickau hingegen haben zwischen 1988 und 1999 über 20 Prozent ihrer EinwohnerInnen verloren. Desolat ist die Situation auch in ehemaligen Industriestädten wie Hoyerswerda und Schwedt. Aber auch das zum Berliner Speckgürtel gehörende schmucke Potsdam schrumpfte um fast zehn Prozent.

Erfahrungen der Rückholagenturen besagen, dass die Bereitschaft unter ausgewanderten Ostmännern, wieder zurückzuziehen, wenn es nur einen Job mit einem vernünftigen Lohn gäbe, relativ hoch ist, bei Ostfrauen sieht das angeblich ganz anders aus.

Die Ursachen für diese dramatische Situation liegen einerseits in der fernen DDR-Vergangenheit und nach der Wende bei der westdeutschen Wirtschaft und jenen Politikern, die »blühende Landschaften« versprochen, aber die planlose Abwicklung der DDR-Industrie mit zu verantworten haben. Wenn sich nun deren geistige und politische Erben, wie Horst Köhler, hinstellen und den Aufbau Ost für gescheitert erklären, dann kann man das schon als perfide bezeichnen.