Über Ungarn nach Kreuzberg

Die Ausreisewelle vor 15 Jahren wird derzeit in den Medien gerne verklärt. Wie undramatisch das Rübermachen zuweilen war, schildert frank birkenstein

Wie weit ist eine Fahrt von Berlin-Prenzlauer Berg nach Berlin-Kreuzberg? Vier, fünf, sechs Kilometer vielleicht. Es können aber auch mehr als 1 000 sein.

Janine und Enrico sitzen im D-Zug, am Fenster fliegen die bunt belaubten Hügel der sächsischen Schweiz vorbei. Es ist Herbst, September 1989. Nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze zwischen der DDR und der Tschechoslowakischen Republik. Die Ostberliner, beide um die 20, kauen nervös auf ihren Lippen, versuchen, sich nichts anmerken zu lassen. Das Lehrerehepaar aus Magdeburg, das in ihrem Abteil sitzt, könnte von der Stasi sein.

Janine und Enrico sind frisch verliebt, zwei Wochen zuvor haben sie sich auf dem Standesamt nach einem Heiratstermin und dem Ehekredit erkundigt – so, wie es gute DDR-Bürger tun, und so, wie sie es sich in ihrer Personalakte wünschen. Sie haben ein Ticket nach Burgas an der bulgarischen Schwarzmeerküste und zurück in der Tasche, in ihren Rucksäcken ist nur das Nötigste für einen Campingurlaub, nichts Persönliches, schon gar keine Unterlagen wie Zeugnisse. Die würden Westberliner Bekannte später bei Ostberliner Freunden abholen.

Dass sie nach Westberlin und Kreuzberg wollen, haben Janine und Enrico einen Monat zuvor entschieden. Nicht, dass ihnen die DDR vorkäme wie ein Gefängnis oder sie den real existierenden Sozialismus hassten, ist der Grund. Im Gegenteil. Sie halten die DDR für den besseren deutschen Staat, sie wollen ihn verbessern. Aber sie spüren die Grenzen, die Zwänge und die einmalige Chance, etwas völlig Neues zu beginnen.

Oft haben sie im Sommer 1989 überlegt, ob sie wie viele andere Ostler auch in den Westen sollten. Aber sie wollen nicht weg, hängen am Prenzlauer Berg, ihren besetzten Wohnungen, den Punk-Konzerten in der Kirche, ihren Freunden, sogar an den Kollegen am Arbeitsplatz: Janine ist Pförtnerin eines Theaters, Enrico Pfleger in einem Krankenhaus. Beide wollen studieren, aber für Literatur und Theaterwissenschaften gibt es in der DDR, die Ingenieure und Agrarökonomen braucht, nur wenige Plätze. Ohne Beziehungen stehen ihre Chancen schlecht, im Westen wäre es viel einfacher.

Als Enrico seinen Einberufungsbefehl zum Grundwehrdienst bekommt, fällt die Entscheidung. Auf eineinhalb Jahre in der Nationalen Volksarmee ist er mental vorbereitet, aber die Verpflichtung zu den Grenztruppen – mit der Möglichkeit, auf »Republikflüchtige« schießen zu müssen – ist zu viel. Zumal die Gelegenheit abzuhauen günstig ist. Der Rest ist gute Organisation und Abschiednehmen von den Freunden, möglicherweise für immer.

Bei der Grenzkontrolle in Bad Schandau gibt es im Zug keine Probleme. Aber Janine und Enrico freuen sich nicht, die DDR verlassen zu haben, sie freuen sich auf den Badeurlaub am Schwarzen Meer. In Budapest steigen sie aus dem Zug, grüßen das Lehrerpaar zum Abschied, das ihnen viel sagend zulächelt.

Das Taxi bringt sie nicht zur Deutschen Botschaft, sondern zu einem Auffanglager des Malteserhilfsdienstes. Ein paar Tage darauf fährt sie ein Reisebus nach Passau, später nach Nürnberg. Im Fernsehen sehen sie hier, im Oktober 1989, die ersten großen Demonstrationen in Leipzig und Dresden, und sie schämen sich, nicht dabei, nicht bei ihren Freunden zu sein. »Hätte ich das gewusst, wäre ich geblieben«, sagt Janine. Einen Tag später steigen sie ins Flugzeug nach Berlin-Tegel. Es ist der erste Flug ihres Lebens.