Was das Herz bewegt

Das dritte Europäische Sozialforum ging am Sonntag in London zu Ende. Alles war dabei, was das linke Bewegungsherz begehrt. von bernhard schmid, london

An Stimmenvielfalt mangelt es nicht auf dem diesjährigen Europäischen Sozialforum (ESF) in London. Insbesondere um die Abschlussdemo am Sonntag gibt es im Vorfeld anhaltenden Streit: Die britische Socialist Workers Party (SWP) will eine totale Ausrichtung der Demo auf »No Bush« sowie »Troops out of Iraq«. Dagegen war in den Vorbereitungsplena beschlossen worden, auch eine explizite Kritik an der europäischen Sozial- und Außenpolitik in den Aufruf aufzunehmen. Auf den Plakaten findet sich dieser Aspekt aber nicht wieder. Zahlreiche Gruppen haben mit einem solchen Verhalten seitens der SWP jedoch gerechnet und ihr eigenes Demomaterial mitgebracht. Der Antikapitalistische Block wirbt gar explizit damit, dass bei ihm »nicht am richtigen Platz sei, wer nur Bush und nicht auch den Kapitalismus in der EU kritisieren will«.

Die Teilnehmer an der europaweiten Debatten-Versammlung lassen sich nicht so einfach für ein Konzept oder eine Organisation vereinnahmen. Nichtsdestotrotz sind natürlich diverse, mitunter skurrile Parteien, Gruppen und Sekten präsent und werben für ihre jeweilige richtige »Linie«. Den größten Lacherfolg verzeichnet ein Grüppchen von Maoisten der Weltbewegung der Volkswiderstände. An ihrem Stand prangen Plakate in grellem Gelb: »A better world is possible: Look to Nepal – a better world in birth«, heißt es dort mit Bezug auf die maoistische Bauernguerilla im Himalayastaat.

Insgesamt nehmen am Forum rund 20 000 Menschen teil, die sich gleich mit diversem Infomaterial eingedeckt haben: Die Kampagne für ein Landminenverbot; Flüchtlings- und Asylgruppen; Prekäreninitiativen und noch viel mehr.

Freitagmorgen auf einer ESF-Konferenz: Im Plenum nebenan hört man den Redner zu einem Thema so laut agitieren, dass man im Seminar, in dem man gerade sitzt, kaum was verstehen kann. Dort geht es um andere Themen, um die »Organisierung migrantischer Arbeiter«, bei uns soll der Frage nachgegangen werden: »Ist Europa eine Alternative zur US-Hegemonie?« Der ägyptische Marxist Samir Amin eröffnet die Runde mit einem Statement, demzufolge es möglich sei, Europa mit »einem anderen sozialen Inhalt« und »einer anderen Politik gegenüber dem Süden« zu verbinden, weshalb die Konkurrenz mit den USA auch Perspektiven eröffne. Dagegen warnt der britische Redner Alex Callinicos, Professor für Politikwissenschaft in York, vor einer Gut-Böse-Einteilung zwischen EU und USA. Mit der europäischen Geschichte seien auch der Sklavenhandel und der Holocaust verknüpft, und zu den USA gehörten »nicht nur Bush und christliche Fundamentalisten, sondern auch Sklavereigegner und die Bürgerrechtsbewegung«. Seine Schlussfolgerung: »Statt für ein soziales Europa sollten wir für eine sozialistische Welt kämpfen.«

Einen weiteren argumentativen Schlagabtausch liefern sich Callinicos und Michael O’Brian vom irischen Anti-War Movement. Callinicos, der auch der britischen SWP angehört, bezieht sich umstandslos auf alle »Strömungen des irakischen Widerstands«, nimmt davon allerdings die Gruppe des jordanischen Islamisten Abu Mussab al-Zarqawi aus; deren »barbarische Akte« nutzten objektiv »den Besatzungsmächten«. Dagegen will O’Brian sich explizit nur auf »die säkularen und progressiven Kräfte im Irak« beziehen, nicht aber auf »jene, die dem iranischen Modell nacheifern wollen«.

Kurze Pause, um sich einen Hamburger reinzuschieben. Und schon steht die Debatte der europäischen Gewerkschaftslinken an. Annick Coupé von den französischen linksalternativen SUD-Gewerkschaften eröffnet mit einem kritischen Rückblick auf die vergangenen europaweiten Aktionstage, die keine nennenswerte politische Resonanz gefunden hatten. Man solle damit aufhören, einmal jährlich die Aktionseinheit feierlich zu beschwören und endlich konkret zur Zusammenarbeit übergehen, lautete die Forderung. Prompt wird eine Liste ausgelegt, um die Mailadressen zu sammeln. Piero Bernocchi von der italienischen Basisgewerkschaft Cobas insistiert: Es sei höchste Zeit für neue Initiativen in der Arbeitswelt, denn die traditionellen Gewerkschaften stellten ihr Versagen kräftig unter Beweis – da sie es nicht schaffen würden, neben den Kernbelegschaften auch den Prekären gleiche solidarische Perspektiven zu bieten. Britische Gewerkschaftslinke berichten von den tiefen Spaltungen, welche die Sozial- und Kriegspolitik Tony Blairs verursache, was neue Kampfperspektiven eröffne.

Am Abend steht mit »end the occupation of Iraq« ein Thema auf der Tagesordnung, das stark im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Doch die Debatte findet nicht statt. Neben britischen und polnischen Vertretern sitzen auch zwei Iraker auf dem Podium, darunter Subhi Al Mashadani vom Gewerkschaftsverband Iraqi Federation of Trade Unions (IFTU). Die IFTU steht der irakischen KP nahe, die der provisorischen Regierung angehört. Für einige im Saal steht fest: Al Mashadani ist ein Verräter und Kollaborateur, den man deswegen besser gleich gar nicht zu Wort kommen lässt. 100 bis 150 Leute von diversen Splittergruppen brüllen die Diskussionsleitung nieder, während 2 000 Leute zuhören wollen und auf die Stühle steigen. Die Situation droht zu eskalieren, die Veranstaltungsleitung entscheidet sich für den geordneten Rückzug.

Am Samstagmittag betrachte ich die Dinge dann vom Podium aus. Es geht es bei einem Seminar um die Themen »Globalisierungsdiskurs und extreme Rechte«. Neben der Situation in Deutschland, Österreich und Frankreich, wo die extreme Rechte das Thema »Globalisierung« mit eigenen Inhalten in Beschlag zu nehmen versucht, geht es vor allem um die Situation in Osteuropa. Dort ist es Rechtsextremisten teilweise gelungen, selbst in die globalisierungskritische Bewegung einzudringen, wie ein – mittlerweile beendeter – rechter Übernahmeversuch bei Attac Polen zeigt.

Am Abend ist noch eine Großveranstaltung zum Thema »Rechtsextremismus in Europa« angesetzt, die jedoch nachhaltig gestört wird. Denn mehrere hundert Anarchisten und Basisaktivisten stören sich daran, dass der Londoner Bürgermeister Ken Livingstone als Redner angekündigt ist: Aus ihrer Sicht geht die Institutionalisierung des ESF damit zu weit, zumal das Londoner Rathaus einen Gutteil der Kosten übernommen hat. Livingstone taucht jedoch als Redner nicht auf, und so kann das Plenum mit halbstündiger Verspätung doch noch stattfinden.

Am Sonntag schließt das ESF mit einer »Versammlung der sozialen Bewegungen«, die den nächsten Aktionskalender beschließt. Im kommenden Februar soll gegen den Nato-Gipfel in Nizza demonstriert werden. Vor allem aber soll es ein gemeinsames Aktionswochenende am 19. und 20. März zum zweiten Jahrestag des Kriegsbeginns geben, mit einer zentralen Demonstration in Brüssel gegen den Krieg und das »neoliberale Europa«: Das nächste Sozialforum des Kontinents steht Anfang 2006 in Athen an.