Es war einmal im Wilden Westen

Bochum nach dem wilden Streik: Stille und Ordnung sind wieder eingekehrt im Herzen des Reviers. von manfred horn (text und fotos)

Bochum, ich komm’ aus dir!« Was mag Herbert Grönemeyer damit nur gemeint haben? Der Stadtbarde wird kaum aus den Tiefen dieser unscheinbaren und längst nicht mehr kohlestaubigen Stadt mit ihren 400 000 Einwohnern kommen wollen, denn da unten ist sie schon längst nicht mehr sie selbst. Vor einem Jahr verleaste die Stadt die Kanalisation an einen Investor aus den USA und mietete sie wieder zurück. Dieses so genannte Cross-Border-Leasing-Geschäft brachte der Stadt einmalig 20 Millionen Euro ein, dafür urinieren die Einwohner jetzt in fremde Rohre.

»Und wie geht es dir heute?« fragt die alte Frau. »Ganz gut. Und Ihnen?« antwortet der Junge. Seine Mutter hat der Frau aus ihrer Nachbarschaft gerade ihren Sitzplatz angeboten. Die nahm dankend an. Die Straßenbahn 302/310 in den Stadtteil Laer ist voll. Sie rumpelt über die Wittener Straße, vorbei am Sheffield-Ring, benannt nach Bochums Partnerstadt in England. An dem traditionsreichen Stahlstandort wurde vergangene Woche ein Werk mit 150 Beschäftigten zugemacht, ohne dass es Widerstand gegeben hätte. Der österreicherische Automobilzulieferer Miba AG verlegte die Produktion in die Slowakei.

Bochum war für sechs Tage eine Stadt der Solidarität. Fast eine Woche lang kamen Abordnungen zu den Werkstoren der drei Opelwerke im Stadtgebiet. Vertreter der Kirchen erschienen, die Bochumer Justizvollzugsbeamten reihten sich in Kette ein und der Opel-Sport-Club fuhr vor. Alle brachten Suppe, Suppenlöffel oder anderes Nützliches mit. Am vergangenen Montag noch zogen 25000 Menschen die Wittener Straße entlang zum Schauspielhaus, um ihre Solidarität mit den Opelanern zu zeigen.

Davon ist ein Tag nach dem Ende der Arbeitsniederlegung, die als längste Informationsveranstaltung der Geschichte in das Statistische Jahrbuch eingehen dürfte, nichts mehr zu sehen. Alles wirkt, als habe jemand einen Hebel umgelegt. Keine Solidaritätsbekundungen an den Häusern, keine Plakate an den Stromkästen. Nur die Bogestra, die Bus und Bahn in Bochum betreibt, hat noch großflächige Aufkleber in ihren S-Bahnen: »Gemeinsam für Opel«. Über Nacht legte sich eine eigentümliche Stille über die Stadt im Herzen des Reviers.

Vor dem Werk

Jaroslaw steht ebenso still vor dem Opel-Werk 1 an der Wittener Straße. Der Opel-Arbeiter sieht elegant aus, trägt einen langen Trenchcoat und eine Zeitung unterm Arm. Innerlich ist er immer noch bewegt: »Die Frage war ganz falsch.« Am Mittwoch hatten bei der entscheidenden Betriebsversammlung rund 4 600 Opelaner für ein Ende der Arbeitsniederlegung gestimmt, 1 700 wollten weiter streiken. Doch der Stimmzettel des Betriebsrats sei »suggestiv« gewesen, findet Jaroslaw. »Es gab nicht die Möglichkeit, zugleich für die Aufnahme von Verhandlungen und die Fortsetzung des Streiks zu stimmen.« Wer für Verhandlungen war, stimmte gleichzeitig für den Abbruch des Arbeitskampfes. Viele im Werk hätten gerne weiter gemacht, wollten mehr Druck für die Verhandlungen erzeugen. Alles sei sehr schnell gegangen bei der Abstimmung. Es habe keine Saalmikrofone gegeben. Mitarbeiter, die auf die Bühne ans Mikrofon wollten, seien vom Werksschutz abgedrängt worden.

Popel-Opel und Manta-Fahrer: Opel-Mobile und ihre Lenker waren jahrzehntelang beharrlichem Gespött ausgesetzt. Doch die Kisten verkauften sich wenigstens. Die neue Generation glänzender Mittelklassewagen ist beliebig geworden und steht wie Blei in den Verkaufsräumen. Die drei Opelwerke in Bochum mit rund 9 000 Beschäftigten allerdings schreiben noch schwarze Zahlen. Die Homepage von Opel verkündet stolz über den Standort Bochum: »Gegenwärtig werden allein in die Modernisierung des Presswerks 53 Millionen Euro investiert.« Kein Wort über die aktuelle Krise.

»Wo sind sie denn, die für den Abbruch gestimmt haben?« fragt sich Jaroslaw. Einen Tag nach der Abstimmung will es keiner gewesen sein. Die Stimmung sei »beschissen«, meint Jaroslaw. »Viele hatten Angst«, ist er sich sicher. »Letztlich ging’s ums Geld.« Da die Arbeitsniederlegung kein offizieller Streik war, gab es auch keine gewerkschaftliche Streikkasse. Jede nicht gearbeitete Schicht koste 100 Euro, erzählt Jaroslaw, der selbst in der Nachtschicht arbeitet. Mit der Solidarität sei es erst mal vorbei, jetzt schaue jeder, wie er durchkomme. »Es bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Mit zwei bis drei weiteren Streiktagen hätten wir sie in die Knie gezwungen gehabt.«

Im Café

Zwei Steinwürfe entfernt vom Opelwerk, auf der anderen Straßenseite, liegt das »Reisebüro-Café«. Es ist später Nachmittag, an zwei Tischen sitzen Rentner und essen ihren Kuchen nach dem Shoppen beim benachbarten Edeka-Markt. Gleich neben dem Eingang steht ein Schreibtisch mit einem Computer, an den Wänden hängen die üblichen Angebote für Billigreisen. Hier sitzt Helmut. Er ist Mitte vierzig und trägt einen Schnäuzer. Aber er verkauft keine Reisen. Er googelt.

»Alle paar Minuten kommt was Neues rein«, sagt er. Seine Hände schweben über den Tasten, die Zigarette klebt fest zwischen den Lippen. »Ist schon ganz richtig, dass wir wieder arbeiten«, meint er. Helmut ist seit 19 Jahren bei Opel. Die Chefin des Cafés lässt ihn ins Internet, sodass er nach den aktuellen Nachrichten über die Verhandlungen bei Opel suchen kann. Reisen will sowieso keiner kaufen im Moment, und man kennt sich halt.

Stundenlang sitzt Helmut hier nach der Schicht und saugt sich die Realität aus der virtuellen Welt, weil es im Werk keine handfesten Neuigkeiten gibt. Er hat für die Wiederaufnahme der Arbeit gestimmt. »Für Opel ist hier doch nur das Presswerk wichtig, den Rest können die an einem Tag zumachen«, glaubt er. Der Streik sei »relativ brauchbar gewesen, um in Verhandlungen zu treten«, ein nicht zu überhörender »Denkanstoß« für die Chefetage. Bereits vor vier Jahren habe man mit einer spontanen Arbeitsniederlegung Erfolg gehabt. Damals ließen die Bochumer Opelaner für zwei Tage die Bänder stehen, als Eigentümer General Motors eine Zusammenarbeit mit Fiat ankündigte. Auch in jenen Tagen ging die Angst um, tausende Arbeitsplätze könnten wegfallen. Tatsächlich gründeten Opel und Fiat das gemeinsame Unternehmen Powertrain. Der Protest hatte aber zur Folge, dass niemand entlassen wurde und bei Powertrain der gleiche Tarifvertrag wie bei Opel gilt.

Zurzeit laufe ein »globaler Austausch von Arbeitsplätzen«, meint Helmut. Opel mache nichts anders als die anderen. Helmut hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, seinen Arbeitsplatz zu behalten: »Man muss abwarten. Bis jetzt ist alles spekulativ.« Es stehe überhaupt nicht fest, wie viele Arbeitsplätze Opel wirklich abbauen wolle und vor allem wo. »Die gehen jetzt an die Werke, die sich nicht gewehrt haben«, vermutet Helmut. Und was wird aus denen, die die Geschäftsführung als »Rädelsführer« der Arbeitsniederlegung ausgemacht hat? »Im Moment ist da nichts zu hören«, sagt er. Derer werde die Geschäftsführung sich später entledigen, wenn niemand mehr hinguckt: »Still und leise«.

Jaroslaw steht immer noch vor dem Tor 1 des Werks 1, das 1962 als erste Opel-Produktionsanlage in Bochum in Betrieb ging, zu einer Zeit, als die ersten Kohlebergwerke dichtmachten. Sein Sohn, der ihn abholen soll, verspätet sich. »Zurzeit werden Sonderschichten gefahren, um den Rückstand wieder reinzuholen und möglichst viel auf Vorrat zu produzieren«, erzählt er. Das Management wappne sich, falls die Verhandlungen platzen und es erneut zu Streiks komme. »Das System ist eine Leiche«, fügt Jaroslaw plötzlich an. Er komme aus Polen, habe dort dreißig Jahre gelebt. »Es kann nicht so werden wie da, aber vieles kann man hier besser machen.«

In der Bäckerei

Als das Werk an der Wittener Straße aufmachte, waren die Stadtoberen begeistert. Sogar der Verlauf der Straßenbahn wurde geändert, damit die Arbeiter vor dem Werkstor aussteigen konnten. Die Alte Wittener Straße hingegen ist seitdem bedeutungslos. Sie bildete einmal das Zentrum des Stadtteils Laer mit seinen 7 000 Einwohnern. Doch die neue Wittener Straße wurde gebaut, Opel sollte eine direkte Verkehrsanbindung haben. Noch heute liegen die Straßenbahnschienen vor der Bäckerei an der Alten Wittener Straße. Aber eine Straßenbahn, die Kunden in den Laden bringen könnte, fährt nicht mehr. Die Gleise führen ins Nichts. »Früher gab es hier jede Menge Geschäfte, alleine fünf Metzger und vier Bäcker«, sagt Gabriele Drüke, die in der einzig verbliebenen Bäckerei im Sechziger-Jahre-Ambiente hinter der Theke steht. Shopping Malls wie der Ruhrpark auf Bochums grüner Wiese sorgten zudem dafür, dass viele Geschäfte schließen mussten.

Unter den übriggebliebenen Kunden sind viele Opelaner. Sie fahren beim Bäcker vor und kriegen dort ab fünf Uhr in der Früh ihre Brötchen. Oder sie gehen nach der Schicht in Sema Kirlangics Trinkhalle, wo es auch Döner gibt. »Wenn Opel hier dicht macht, müssen wir auch zumachen«, sagt Sema. Die Bäckermeisterfrau Drüke sieht ihre Existenz ebenfalls gefährdet. Jedes zweite Auto am Straßenrand ziert der Kreis mit dem waagerechten Blitz. Im Stadtteil leben viele bei Opel Beschäftigte. Die könnten sich dann weniger leisten. Aber nicht nur die verbliebenen Geschäfte im Stadtteil, die ganze Region hänge an Opel, ergänzt Drüke, die dort seit 1953 ihr Brot bäckt. »Wo sollen die neuen Arbeitsplätze herkommen?« fragt sie. Würde Opel in Bochum schließen, wären 40 000 Menschen ohne Arbeit. Ähnliches ist in der Glückauf-Apotheke um die Ecke zu hören. »Die Kaufkraft würde sinken. Viele müssten sich zwischen Schnitzel und Hustensaft entscheiden«, sagt die Verkäuferin.

Im Kulturzentrum

Heinz Rudolph ist Rentner. Er steht vor der Bude am Anfang der Alten Wittener Straße. Er wollte wie viele in Bochum, dass der Streik weiter geht. Die Politik habe das verhindert. Die SPD, die in Bochum im Gegensatz zu vielen anderen Städten des Ruhrgebiets immer noch eine Macht darstellt, rief zwar mit zur Großdemonstration auf. Sie sorgte aber zugleich dafür, dass die Opelaner die Arbeit wieder aufnahmen. Rudolph ist ein alter Sozialdemokrat, doch was Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, ein gebürtiger Bochumer, gemacht habe, ist für ihn nicht in Ordnung. »Der ist den Streikenden in den Rücken gefallen.« Clement erklärte die Opel-Krise zur Chefsache, die Arbeitsniederlegungen seien aber »nicht hilfreich« gewesen. Man müsse eben wissen, wo sein Herz sitzt, schiebt Rudolph hinterher.

Die Stille der Stadt, der bittere Nachgeschmack: Die Menschen wissen, dass sie es jetzt nicht mehr in der Hand haben. Viele sind frustriert, manche genervt, wenn man sie auf Opel anspricht. Das linke Bochumer Kulturzentrum Bahnhof Langendreer hat die Streikenden unterstützt, übrig bleibt nur noch ein riesiges Transparent am Haus und die cineastische Bewusstseinsschärfung. Das Transparent erklärt: »Zwei Wege, ein Ergebnis: Opel/Karstadt und Hartz IV. Vom Tariflohn zum Ein-Euro-Job«. Das Programmkino im Haus zeigt Michael Moores Film »Roger and Me«, ein Frühwerk des linken Dokumentarfilmers. In Flint, dem Heimatort von Moore, entließ General Motors in den achtziger Jahren 30 000 Arbeiter, die Stadt stand vor dem Zusammenbruch. Moore zeigt den entschlossenen, aber letztlich erfolglosen Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze. Opelaner haben hier wie im Bochumer Multiplex-Kino UCI-Kinowelt, das den Film inzwischen auch zeigt, freien Eintritt.

An der Universität

Das erste Opel-Werk entstand kurz vor Fertigstellung der Ruhr-Universität. Opel und die Hochschulen sind heute die größten Arbeitgeber in Bochum. Auch an der Ruhr-Universität finden sich nur wenige Spuren des Gewesenen. Lediglich an einer Stelle des gigantischen Betonklotzes ruft ein handgemaltes Transparent zu einer Solidaritätsveranstaltung auf. »Die Studierenden sind unter Druck«, erklärt Ulrich Schröder, ein Doktorand der Skandinavistik, fast entschuldigend. Bachelor- und Masterstudiengänge sorgten für verschulte Abläufe, mal eben an einer Demonstration teilzunehmen, sei für viele nicht mehr drin. Zur Großdemonstration zog eine kleine Demonstration von der Universität los, allerdings gingen nur 70 Studenten mit. Schröder war dabei, er wünscht sich, dass Studierende und Opelaner stärker zusammenarbeiten. Er hat mit anderen zusammen die Gruppe »19. Oktober« gegründet. Der Name weist auf den Tag, an dem der Streik auf seinem Höhepunkt war, die Opelaner mit den Bürgern in die Stadt zogen und auch an den anderen sechs Produktionsstandorten in Europa Aktionen stattfanden.

In der Praxis kommen die 9 600 Bochumer Opelaner und die 35 000 Studierenden, die sich an diesem Mittag in der Mensa zwischen Karottenröstling mit tomatisierter Gemüsesoße und Seelachsfilet mit italienischer Auflage entscheiden müssen, kaum zusammen. Versuche gab es immer mal wieder, Ergebnisse nicht. So sprach Schröder schon vor Jahren auf einer Opel-Betriebsversammlung, als das Hochschulrahmengesetz geändert wurde und Studiengebühren möglich wurden. Erst nach dem Streik bei Opel kam erstmals ein Betriebsrat in die Universität, um mit den Studenten zu diskutieren. Umgekehrt waren immerhin einige Studenten während der Auseinandersetzungen vor den Werkstoren.

Ursprünglich wollte der Asta zum Streik an der Universität aufrufen, doch diese Pläne sind mit der Arbeitsaufnahme ad acta gelegt. Eine deutliche Sympathie zeigt Schröder für den Vorschlag der Sozialen Liste, die mit zwei Abgeordneten im frisch gewählten Stadtparlament sitzt. Diese will Opel vergemeinschaften. Die Liste, ein linkes Bündnis unter anderem von DKP und Attac, das sich klar von der Bochumer PDS abgrenzt, erklärt, die Bochumer Werke gehörten denen, »die sie gebaut und mit ihrer Arbeit über Jahrzehnte am Leben erhalten haben«. Deshalb solle Opel in die Hand der Kommune und der Arbeiter gegeben werden. Schröder sieht es genauso: »Im Artikel 14 des Grundgesetzes steht: Eigentum verpflichtet.« Die Produktionsmittel müssten dem Gemeinwohl dienen. Doch im Stadtrat ist diese Vorstellung nicht mehrheitsfähig.

Solidarität der Neonazis

Schröder kennt auch die Aktivitäten in der Neonazi-Szene. Die NPD rief zu einer Demonstration für Opel auf, circa 60 Rechtsextreme kamen und zogen zum Husemann-Platz in der Innenstadt. Das Motto lautete: »Das Volk blutet, das Kapital kassiert. Globalisierung zerstört deutsche Arbeitsplätze.« Die Polizei nahm die rechten Demonstranten mit Claus Cremer an der Spitze in einen Wanderkessel und ließ sie auf dem Platz sprechen, der nach Fritz Husemann, einem 1943 von der Gestapo ermordeten ehemaligen Reichstagsabgeordneten der KPD benannt ist. Cremer, der in Wattenscheid, das zu Bochum gehört, für die NPD in der Bezirksvertretung sitzt, gilt als das Bindeglied zwischen NPD und den freien Kameradschaften im Ruhrgebiet. »Immerhin sind keine Opelaner mitgelaufen«, sagt Schröder.

Mit einem Ergebnis der Verhandlungen zwischen dem Betriebsrat und dem Management von General Motors rechnen die Opel-Beschäftigten in zwei Wochen. Vor ihnen liegt eine lange Zeit der Ungewissheit. Sollte das Ergebnis Entlassungen bedeuten, könne es wieder losgehen, ist sich Jaroslaw sicher. »Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen«, glaubt er. Unterm Kessel ist noch Dampf.