Gegen die Realität

Die klassischen Alben der Hamburger Band Kolossale Jugend gibt es endlich wieder. von jörg sundermeier

Ende der Achtziger wurden wir umgehauen. Wir waren schon 1986 umgehauen worden, als Cpt. Kirk & ihr Album »Stand Rotes Madrid« veröffentlichten, waren bereits Anfang der Achtziger niedergestreckt, als Fehlfarben, die Einstürzenden Neubauten, Malaria und andere »Geniale Dilletanten« auf Deutsch sangen, und sei es auch in einer Fetzensprache aus Sprachfetzen. Das tat man nicht, deutschsprachige Texte galten als »peinlich«. »Jawohl, es ist Deutsch«, hieß es im ersten Info zur Band die Kolossale Jugend, das wiederum ist der Band heute sehr peinlich.

Wir konnten damals Englisch zwar einigermaßen verstehen, doch man konnte in dieser Sprache eben nur schwer singen, der eigene derbe Akzent war einem unangenehm, und man schämte sich für die Mitbewohner, wenn sie mit ihrem deutschen Englisch ihre Gefühle zur Gitarre auswalzten. Doch eine andere Sprache gab es nicht, Ernst Busch, Degenhardt oder Ina Deter redeten nicht darüber, was einen beschäftigte, EA 80 kannte keiner, andere – wie man heute sagen würde – Deutschpunks hatten den Westerwald nur durch das Wort »Dosenbier« ersetzt, der Marschtakt blieb der gleiche, die Stimmung auch.

Da war es, damals, schon der Hammer, wenn Tobias Levin von Cpt. Kirk & in einem Gesangsstil, der unserer war, denn er war überspitzt, unauthentisch, zur wie wahnsinnig gerührten E-Gitarre sang: »I cut my fingers / ich verkaufe sie dem Schlachter!« Kristof Schreuf, Sänger der Kolossalen Jugend, sagte gleich gar nichts mehr auf Englisch. Aber welche Sprache sprach er? »Faust in die Münder / Mund auf« sang er, »Hecheln über Erde / Gellen gellt und / Pfiffe röcheln / Ich suhle mich in Milde / Faules Pack knetet / Biegenbrechen // Louie, Louie / Wir müssen gehen.« Louie, Louie, schon klar, Rockgeschichte wird gemacht, doch was steckt in den neoexpressionistischen Sätzen? Wer redet hier zu wem? Wir wussten es nicht, doch wir haben es verstanden, haben, 18, 19, 20 Jahre alt waren wir, uns verstanden gefühlt. In diesem Alter redet die Stereoanlage ja noch zu einem.

Wer waren wir? Wir waren Zivildienstleistende, Studierende, Leute, die spürten, dass der große Spaß der achtziger Jahre, »besser angezogen sein als der SPD-Lehrer und ihn linksaußen überholen«, wie es Jochen Distelmeyer mal genannt hat, dass dieser Spaß vorbei war. Wir spürten es nur, wir wussten es nicht, wir waren politisch, ja, doch das Bier schmeckte gut, allabendlich, das Geld der Eltern floss noch, und dass in Ungarn der Eiserne Vorhang gehoben wurde, dass Gorbatschow die Sowjetunion verhökerte und dass Kohl nicht nur schon 1 000 Jahre Kanzler war, sondern es noch mal 1 000 Jahre sein würde, all das schwante uns, drang aber nicht ins Bewusstsein vor, dort war nur Aufregung, Unwohlsein, Revoltenhunger, der sich nicht stillen ließ – und Unbehaustheit.

Gerade wird das Gesamtwerk der Kolossalen Jugend noch mal bei L’age d’or (das Label wurde gewissermaßen parallel zur Band von Freunden der Band gegründet) veröffentlicht, die beiden Platten »Heile Heile Boches« und »Leopard II« auf CD, mit Bonusstücken, Samplerbeiträgen, einem Livemitschnitt.

In den umfangreichen Booklets erinnert man sich. Schreuf schreibt rückblickend: »Ich bin hingerissen und verlottere. Meine abgetragenen Hemden und Hosen hängen an mir rum. So will ich zeigen, wie intensiv das Sängersein an mir zerrt. Ich achte darauf, nicht auf mich zu achten. Dass wir Monat zu Monat mehr zu tun bekommen, kommt mir gerade recht, denn so kann ich mir eine Reihenfolge einbilden. Erst bekommen meine Sachen Löcher oder Risse, als nächstes zerfasern wir in Erledigungen. Dazwischen werden leichtfertig und rigoros Ideen weggeworfen.« Pascal Fuhlbrügge, Gitarrist und Komponist der Band, schreibt: »Den 10. November 1989 erlebe ich auf der Autobahn. Auf dem Anhänger transportieren wir den bei Frankfurt verstorbenen, als Bandbus fungierenden Campingbus von Freunden. Es tauchen immer mehr Trabbis auf der Gegenfahrbahn auf. Erste Deutschlandfahnen an den Brücken. Wir fahren an der Raststätte raus. In der Tanke ist schon eine Sonderausgabe der Bild-Zeitung erhältlich. Aufmacher: ›Guten Morgen Deutschland‹. Drei Tage später geben wir das ›Halt’s Maul, Deutschland‹-T-Shirt in Auftrag. Es wird ein Renner. Irgendwann bekomme ich Angst, dass das T-Shirt sich besser verkaufen könnte als unsere Platten.«

Benannt hat sich die Band nach dem Stück »Colossal Youth«, was, nach Meinung der Bandgründer Klaus Meinhardt (Bass) und Fuhlbrügge, den »zweitbesten« Bandnamen ergab, die Young Marble Giants, die »Colossal Youth« eingespielt haben, hätten ja den besten Namen gehabt. Die erste Single, »Kein Schulterklopfen / Zurück in den USA« erscheint 1988, Diedrich Diederichsen äußert sich lobend, auf ein spontan in Köln angesetztes Konzert verirren sich vier Leute.

Weil man jung war, bescheuert und »ehrlich«, wurden diese beiden Stücke, die Fuhlbrügge zurecht als sehr gute ansieht, nicht auf »Heile Heile Boches« noch mal veröffentlicht, 1989, als das Album erschien, glaubte man noch daran, dass die Leute sich die Singles dazu kaufen. Die Band tourt, mehr oder minder erfolgreich, wird gehört, nicht immer richtig verstanden und gilt unter den jungen Blöden, den Fanzine-Leserinnen und -Lesern, uns also, als eine Art Geheimtipp. »Leopard II«, die Platte mit dem vielleicht besten Titel der Neunziger Jahre, erscheint ein Jahr später, dann zerfällt die Band, alles muss nochmals diskutiert werden. Heute spielen die Bandmitglieder bei den Sternen, bei Sand 11 oder Brüllen, machen beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit oder produzieren House Music. Ihre Platten jedenfalls tüten sie nicht mehr selbst ein. Das Label, dass sie mitaufgebaut haben – mit freiwilligem Telefondienst, Händchenhalten und Postdiensten –, veröffentlicht heute Tocotronic und andere Reste von dem, was man einst die »Hamburger Schule« nannte.

In den Erinnerungen der Bandmitglieder ist der Zusammenbruch der DDR und des Ostblocks das zentrale Ereignis. Die Kolossale Jugend war eine Band gegen das deutsche Monster, das 1989 aus seinem Winterhalbschlaf erwachte. Dass sie das mit deutscher Sprache tat, war okay, denn sie wusste mit dieser Sprache umzugehen, »der Text ist meine Party« sang Schreuf, wir waren auf dieser Party gern zu Gast, doch es war nicht unsere. Wir wollten damals nichts teilen, genau dieses »Wir« nicht werden, das auch dieser Artikel hier jetzt aus uns macht.

»Bessere Zeit klingt gut«, lautet eine weitere Zeile der Band, die in IndieschnöselInnenkreisen zu einem geflügelten Wort werden sollte. Dieser Satz stimmt heute noch. Traurig ist, dass der Protest, die verhaltene, halbbürgerliche Revolutionarität, die in diesen Platten vorscheint, noch immer angemessen ist. Schön ist, dass es diese Platten jetzt wieder gibt.

Kolossale Jugend: Heile Heile Boches, Leopard II Various Artists: Um und bei Kolossale Jugend (alle Lado/Rough Trade)