Awo ultra indiskret

Zwei Asylsuchende wurden vor Gericht vom Vorwurf der üblen Nachrede freigesprochen. Sie hatten sich über die Zustände im Asylbewerberheim Rathenow beschwert. von martin kröger

Ich hätte nie gedacht, dass wir als Asylbewerber vor deutschen Gerichten einmal die Chance erhalten, so ausführlich angehört zu werden.« Mohammed Abdel Amine von der Flüchtlingsinitiative Brandenburg (Fib) vernahm ungläubig das Urteil, das am 1. November in einem Prozess wegen übler Nachrede im brandenburgischen Rathenow verkündet wurde. Das Gericht sprach den 28jährigen Togoer sowie den 34jährigen Palästinenser Mohamad Mahmoud vom Vorwurf der Verleumdung frei. »Den Angeklagten ist das Erbringen der Beweispflicht in beiden übrig gebliebenen Anklagepunkten gelungen«, lautete die Begründung des Richters Robert Ligier.

Gemeinsam mit 60 anderen BewohnerInnen ihres Asylbewerberheimes hatten sich Mahmoud und Amine im Juli 2002 an die Öffentlichkeit gewandt, um auf die katastrophale Situation in ihrer Unterkunft aufmerksam zu machen (Jungle World, 38/02). In dem Schreiben hatten die Asylsuchenden beklagt, dass die Überwachungskameras nicht zu ihrem Schutz, sondern zur ihrer Beobachtung dienten, die Heimleitung die Generalschlüssel dazu benutze, um die Zimmer der BewohnerInnen in deren Abwesenheit zu kontrollieren, und dass die Post geöffnet werde. Zudem beschuldigten sie das damals für den Schutz des Heimes eingesetzte Sicherheitsunternehmen Zarnikow aus Premnitz, Mitglieder der rechtsextremen Szene des Westhavellands zu beschäftigen.

Auf die öffentliche Beschwerde reagierten die Arbeiterwohlfahrt Havelland (Awo), die das Heim betreibt, und das Sicherheitsunternehmen mit einer Anzeige wegen übler Nachrede. Zwar bestätigte nur einen Monat später der Brandenburger Verfassungsschutz, dass bei Zarnikow tatsächlich mehrere Mitglieder der rechtsextremen »Kameradschaft Hauptvolk« beschäftigt seien. Dennoch beendete das Unternehmen erst im Januar 2003 die Zusammenarbeit mit der Awo; das Unternehmen existiert weiter, über die Entlassung der als rechtsextrem eingestuften Mitarbeiter ist nichts bekannt. Im nun beendeten Verleumdungsprozess spielte dieser Aspekt keine Rolle mehr.

Auch der Punkt der Überwachung der Flüchtlinge durch die installierten Kameras war aus der Anklageschrift entfernt worden. Die Leiterin des Heimes, Bärbel Pagel, hatte bei ihren Aussagen vor Gericht freimütig eingeräumt, dass sie überprüfe, wer das Heim betritt und verlässt. Im Prozess vor dem Amtsgericht, der sechs Verhandlungstage in Anspruch nahm, ging es deshalb nur noch um zwei Punkte: die Kontrolle der Zimmer und die Öffnung der Post der HeimbewohnerInnen.

Die Erklärung, die der Geschäftsführer der Awo Havelland, Ralf Schröder, vor der Verkündung des Urteils abgab, klang wenig schuldbewusst: »Unbekannte haben nach unserer Wahrnehmung seinerzeit bei vielen Bewohnern unter Angabe ganz anderer Gründe (und offenbar auch Zwang) Unterschriften unter einen weltweit verschickten Brief (Memorandum genannt) eingeholt. Die in dem Brief erhobenen Vorwürfe entsprechen nicht den Tatsachen. Eine externe Überprüfung hat nichts ergeben. Meine als Arbeitgeber gesetzlich vorgeschriebene Fürsorgepflicht für die im Heim beschäftigten Mitarbeiter gebot es mir, gegen die jahrelangen Beleidigungen und Unterstellungen einzelner gegen das Heimpersonal und damit gegen uns als Träger vorzugehen.«

Doch der Verteidigung, auf deren Seite bei Verleumdungsklagen die Beweislast liegt, war es gelungen, genügend ZeugInnen aufzutreiben, die die in dem offenen Brief genannten Vorwürfe bestätigen konnten. Unter ihnen war der ehemalige Sozialarbeiter Manfred Koch, der im Frühjahr 2003 drei Monate lang im Heim beschäftigt war, bevor ihm aus unerfindlichen Gründen gekündigt wurde. Obwohl die Veröffentlichung des Protestschreibens bereits über ein halbes Jahr zurücklag, konnte Koch aus seiner Zeit sämtliche Vorwürfe der Flüchtlinge bestätigen. »Im Vergleich zu anderen Heimen, in denen ich zuvor beschäftigt war, war ich über die Situation in Rathenow erschüttert«, sagte er vor Gericht. Er, der den HeimbewohnerInnen die Möglichkeit, Sport zu treiben, und neue Jobs verschafft hatte, vertrat die Ansicht, »dass die Förderung der Integration nicht im Interesse der Awo ist«.

Ein ehemaliger Mitarbeiter der IG Metall, Willy Hajek, bestätigte, dass er einen Anruf von der Heimleiterin Bärbel Pagel erhalten habe, obgleich sie seine interne Durchwahl eigentlich nicht habe wissen können.

Was sich die Leitung im Rathenower Flüchtlingsheim erlaubte, erstaunte selbst den sich sichtlich unwohl fühlenden Staatsanwalt Gerd Heininger. »Wäre ich von Anfang an für die Anklageschrift zuständig gewesen, ich hätte diesen Prozess nie stattfinden lassen. Bei den Aussagen der Heimleitung hat es mir zum Teil die Kehle zugeschnürt«, sagte der Staatsanwalt während seines Plädoyers und forderte eine schnellstmögliche Änderung »der Zustände«. Trotz dieser für die meisten Anwesenden überraschenden Auffassung sprach er sich für eine symbolische Geldstrafe von 50 Euro gegen die beiden Angeklagten aus. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft habe sich das Öffnen der Post nicht beweisen lassen. Zudem sei »dieses Gericht nicht der geeignete Ort, um die Verfehlungen der deutschen Ausländerpolitik zu diskutieren«. Bei Prozessbeginn im März dieses Jahres hatte dieselbe Staatsanwaltschaft auf dem Prozess bestanden.

Die Verteidigung von Mahmoud und Amine hatte Freisprüche gefordert. »Nach unserer Auffassung handelt es sich bei diesem Verfahren um eine Art Musterprozess, der eine besondere Bedeutung hat, weil es sich um eine nicht ungewöhnliche Methode handelt, politisch aktive Asylbewerber mundtot zu machen«, erklärte Rechtsanwalt Ulrich von Klinggräff der Jungle World. Nun sei zu hoffen, »dass dieses Urteil auch woanders wahrgenommen wird und dadurch das Selbstbewusstsein der Flüchtlinge steigt, die fürchterlichen Zustände in deutschen Asylbewerberheimen zu benennen«.

Mahmoud und Amine sind Mitglieder der Flüchtlingsinitiative Brandenburg, die sich seit mehreren Jahren für die Belange der Asylsuchenden in dem Bundesland einsetzt. Und zwar durchaus erfolgreich: Bereits im Herbst des Jahres 2000 wurde die selbst organisierte Initiative für ihr Engagement mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille der internationalen Liga für Menschenrechte ausgezeichnet. »Dieses Urteil stärkt uns«, sagt der nun freigesprochene Togoer Amine. »Endlich habe ich wieder alle Kapazitäten frei, um meine politischen Aktivitäten fortzuführen, und muss mich nicht mehr mit diesem Prozess herumschlagen.«

Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung prüfen nun Anzeigen wegen Falschaussagen gegen die MitarbeiterInnen der Awo.