Hope is on the run

Die USA haben einen neuen Präsidenten gewählt. Die Jungle World schickte ihren Wahlbeobachter david reed ins Krisengebiet

31. Oktober

John ruft an. Er sagt, ich müsse doch sehr erleichtert sein, dass ich mir ab Dienstag keine Sorgen mehr machen muss, dass sie bin Laden noch rechtzeitig zur Wahl finden. Er liegt nicht ganz falsch: So besorgt, wie ich bin, habe ich es inzwischen satt, alle paar Minuten zum Computer zu rennen und nachzusehen, ob sie ihn geschnappt haben.

Wenn ich nicht gerade im Internet die Meinungsumfragen lese, kümmere ich mich um dies und das, so als würde ich mich auf eine lange Reise vorbereiten. Ich bin aufgeregt wegen der Wahl – die Umfrageergebnisse sehen gut aus für Kerry, und einige von Bushs Experten klingen weniger zuversichtlich als sonst, aber es bleibt doch die hartnäckige Sorge, dass doch noch etwas schief gehen könnte …

2. November, 8.30 Uhr

Bush hat gerade gewählt und spricht mit Journalisten. Vielleicht bilde ich mir das ein, aber er sieht aus, als ob er denkt, dass er verlieren wird: Er hat diese texanische Großspurigkeit verloren, mit der er in den Debatten so angegeben hat. Das und die Zahlen der letzten Umfragen sind ein guter Start in den Tag.

Ich leihe mir Ethan aus. Ein 18 Monate altes Kind auf dem Arm ist noch besser als ein alberner Hut, wenn man filmen will, ohne Schwierigkeiten zu bekommen. Bis zu einem bestimmten Punkt funktioniert das auch: Als ich mich im Wahllokal eintrage, kommt ein höflicher junger Mann zu mir und erklärt, dass es nicht erlaubt sei, Bilder zu machen. Ich zücke meinen Presseausweis aus Baltimore, er betrachtet ihn, dann mich. Sieht so aus, als ob er nicht an Journalisten mit billigen Videokameras und Babys unterm Arm gewöhnt ist. Als er mich fragt, für wen ich arbeite, beschließe ich, mein Glück nicht überzustrapazieren (Jungle World hört sich nicht sehr glaubwürdig an, also sage ich, dass ich für die taz arbeite).

Es stellt sich heraus, dass ich zur falschen Schule gegangen bin (# 1): Ich muss meine Stimme in der Schule nebenan abgeben, und ich bin so schon zu spät dran, um Vika auf einem Parkplatz in Hampden zu treffen und ihr Ethan zu übergeben. Die Wahl wird warten müssen. Gebe Ethan ab, hetze zur Arbeit.

Ich habe einen Plan: Joe hat mir eine E-Mail geschickt, dass er nach Las Vegas fährt, um dort potenzielle Kerry-Wähler zu den Urnen zu bringen. Ich denke, dass ich mich auch in den nächsten »Swing State« begeben sollte. Also bitte ich um einen halben freien Tag und entscheide mich für Philadelphia.

Checke die Webseite der New York Times ungefähr 45 Mal in ein paar Stunden, drucke eine Karte der Wahlbezirke in Philadelphia aus und gehe nach Hause, um zu wählen. Scheiße! Ethan schläft – wie soll man da wählen? Es ist ein historischer Moment, und es wäre wichtig für ihn, live dabei zu sein, aber es ist nicht fair, ihn aufzuwecken (als ob es fair gewesen war, ihn und Vika vier Stunden lang in der heißen Sonne warten zu lassen, um die aufgebahrte Leiche von Ronald Reagan zu sehen?) (In einer zukünftigen Jungle World.) Also mache ich mich allein auf den Weg.

Wähle; als ich wähle, schummle ich meine Kamera aus der Tasche und mache ein paar schnelle Fotos (# 2). Aber die Wahlkabine ist nicht sehr privat, und ich werde erwischt. Der Wahlhelfer bittet mich, die Bilder zu löschen, und kann es kaum glauben, dass ich eine alte, analoge Kamera habe, bei der man Bilder nicht einfach löschen kann. Man begleitet mich an einen Verwaltungstisch, wo ich warten soll, bis sie von ihren Vorgesetzten erfahren haben, was sie mit mir machen sollen. Während ich warte, höre ich ihre Abenteuergeschichten nach 9/11 an. (»Heutzutage ist doch alles anders: Vorhin hat eine Frau ihre Handtasche vergessen, und wir mussten 911 anrufen. Die Polizei kam, und wir mussten entscheiden, ob wir das Wahllokal schließen …«) Sie entschuldigen sich andauernd dafür, dass ich warten muss, und ich sage ihnen andauernd, dass ich das verstehe. Zum Trost geben sie mir einen Aufkleber (# 3). Schließlich darf ich gehen: Als Journalist darf man die Wahlmaschine fotografieren, aber nur, wenn man selbst wählt. Das hört sich nach einer seltsamen Regel an, aber sie haben kein Interesse, die Feinheiten zu diskutieren, also gehe ich wieder raus. (# 4)

Gerade rechtzeitig: Pfadfinderinnen bauen einen Tisch auf und verkaufen Kekse. Ich habe etwas Hunger und fühle mich verpflichtet, der guten Sache zu helfen, aber ich widerstehe der Versuchung und gehe stattdessen nach draußen und mache Fotos von ein paar Republikanern.

100 Meilen später erreiche ich Philadelphia. Viele Leute sind unterwegs und schwenken Kerry/Edwards-Schilder; Autofahrer hupen zustimmend. Es kommt mir etwas albern vor, aber ich hupe auch. Es wäre toll, auszusteigen und Bilder zu machen, aber man kann nirgends parken.

Gehe zum Kerry-Büro in der Walnut Street, erzähle ihnen, dass ich Journalist bin und mir gerne anschauen würde, was so los ist. Man erklärt mir den Weg zum Hauptquartier weiter die Straße runter, wo ich im elften Stock jemanden finden könne, der mir alles erklärt. Dann sage ich, dass ich gerne helfen würde, und alles wird vergeben. Ich soll hinten raus gehen und auf weitere Anweisungen warten. Aber die Gasse hinterm Haus ist nicht sehr aufregend, also suche ich eine Telefonzelle, um meinen Freund Rich (Jungle World, 14 und 27/03) anzurufen, der hier auch irgendwo sein muss – vielleicht hat er etwas Besseres gefunden. Schlendere herum, frage mich, warum es in der Innenstadt von Philadelphia so wenige Telefonzellen gibt. (Notiz für mich: ein Handy besorgen.)

Überquere eine Straße, sehe ein Telefon auf der anderen Seite, gehe zurück. Fische ein paar zerknüllte Papierschnipsel aus der Tasche, suche nach der Nummer von Rich. Irgendein Typ hupt die ganze Zeit, also drehe ich mich um: Es ist Rich. Wir sind beide ziemlich aufgeregt. Ich sage ihm, dass die Meinungsforscher von Zogby einen Sieg für Kerry vorhersagen; er hat auch gute Neuigkeiten gehört. Aber zum Geschäft: Er ist auf dem Weg nach Nordphiladelphia, um Papierkram zu erledigen – dort gibt es nichts Interessantes zu tun –, aber er sagt, dass sie im Büro in der Walnut Street vor einer Weile Leute gesucht hätten, die Russisch sprechen, um die Leute zum Wählen zu kriegen.

Gehe zurück zur Walnut Street, erzähle ihnen, dass ich Russisch kann. Ich soll mit dem Typen im weißen Hemd sprechen, aber er telefoniert gerade. Eine Frau fragt mich, wie lange es her sei, dass man mir sagte, sie würden Russisch sprechende Freiwillige brauchen. Inzwischen kommt eine Frau und sagt, dass dringend Freiwillige für »Hospitality« gesucht werden. Ich bin mir nicht sicher, was das ist, aber ich beeile mich, wieder in die Gasse hinter dem Haus zu kommen.

»Hospitality« bedeutet, wie sich herausstellt, die Leute bei Laune zu halten, die in der Schlange warten, damit sie bleiben, bis sie ihre Stimme abgegeben haben. Aber zuerst gibt es Sandwiches für alle Hospitality-Helfer. Die anderen scheinen das aufregender zu finden als ich, also lasse ich die Finger davon und setze mich in einen Minivan. Der Fahrer ist aus Washington D.C. und hat den Tag damit verbracht, an Türen zu klopfen. Wir sind sechs oder sieben in dem Minivan, aber die Leute gehen nach und nach, während wir dasitzen und herauszufinden versuchen, wo wir hingehen sollen und wie man dahin fährt. Endlich kommt jemand und sagt, dass man uns braucht, um an Türen zu klopfen. Der Fahrer beschließt, stattdessen nach Washington zurückzufahren.

Ein anderer Wagen kommt, und ich steige ein, zusammen mit drei anderen. Wir begrüßen uns und warten weitere fünf oder zehn Minuten auf eine Aufgabe. Es kommt keine, also steigen wir wieder aus. Ich gehe hinein, hole mir einen Button (# 5) und treffe einen anderen Typen, John, der auch aus Washington ist. Wir sollen in den dritten Stock gehen, wo Leute an den Telefonen sitzen und in dieser letzten Stunde vor Schließung der Wahllokale versuchen, Leute zu überreden, doch noch wählen zu gehen. Man gibt uns Handys, Zettel mit Anweisungen, was wir sagen sollen, und eine Liste mit eingetragenen Demokraten. Die Frau erklärt: »Wir rufen nur Demokraten an. Die republikanischen Wähler sind … nun, nicht in unserer Verantwortlichkeit.« Sie scheint sich schlecht damit zu fühlen, aber das sind nun mal die Anweisungen.

Falls jemand eine Fahrgelegenheit zum Wahllokal braucht, sollen wir ein Formular ausfüllen und es Rick geben, der sich darum kümmert. John und ich kriegen zusammen nur ein Formular, was wie ein Problem aussieht, aber keines ist: Meistens ist entweder die Nummer tot, oder es geht niemand ran. Ich kriege ein paar Faxgeräte und verschiedene seltsame Töne. Nach 45 Minuten bin ich durch fünf Seiten Nummern durch und habe mit genau sieben Leuten gesprochen (# 6). Alle haben bereits gewählt.

Anscheinend sollen wir telefonieren, bis die Wahllokale schließen, was nicht besonders sinnvoll ist. Das Gerücht geht um, dass die Wahllokale in Pittsburgh anderthalb Stunden länger offen bleiben sollen, und die Leute fordern, wir sollten lieber Pittsburgh anrufen. Aber unsere Leiterin (wie hieß sie noch gleich?) erklärt: »Wir sind nur Fußsoldaten. Wir marschieren dahin, wo man uns hinzumarschieren befiehlt.« Ich mache ein paar Bilder der Soldaten (# 7) und ihrer Nachschublinie (# 8). Mache einen Boxenstop in der Latrine (# 9, 10), bevor ich wieder hinausgehe.

Schlendere durch die Straßen, rede mit seltsamen, aber freundlichen Kerry-Anhängern (# 11), bleibe stehen und gucke von draußen auf den Fernseher in einem Café. Irgendwie scheint es eine Menge Rot in Florida zu geben, was eigentlich unmöglich ist, weil dort doch Kerry gewinnen sollte. Ich bin vorübergehend besorgt, aber ich denke, dass es wohl etwas ist, was ich nicht verstehe.

Ich will zur Party im Warwick Hotel, aber vor neun lassen sie niemanden rein. Also gehe ich zu meinem Wagen zurück und esse den Imbiss, den ich mir eingepackt habe (italienische Wurst auf Pitabrot, Wasabe-Erbsen zum Nachtisch).

Die Party ist ruhiger, als ich erwartet hatte, aber es ist noch früh. Es gibt umsonst zu essen (nicht so gut wie mein Snack), aber die Getränke kosten drei Dollar aufwärts. Nach ein paar Stunden bin ich ausgetrocknet, breche zusammen und kaufe mir ein Wasser. Eine Band spielt (# 12), und ein paar Leute tanzen, aber die meisten kleben vor den riesigen Leinwänden (CNN, MSNBC). Alle jubeln, wenn gute Zahlen für Kerry kommen. (# 13)

Zunächst sind die Nachrichten nicht besonders gut, dann wird es schlimmer. (# 14) Langsam wird klar, dass Kerry verlieren wird. Das einzige, was die Fernsehsender davon abhält, das zu melden, ist, dass sie es alle vor vier Jahren vermasselt haben, als sie den Gewinner zu früh ausriefen. Jetzt wollen sie den gleichen Fehler nicht noch einmal machen. Auch die Organisatoren scheinen die Zeichen so zu deuten: Um 2 Uhr morgens machen sie das Licht an und schicken alle nach Hause. Fotografiere ein Tischtuch mit Weinflecken und ein paar der letzten Gäste (# 15), sammle einige historische Artefakte (# 16).

Verfahre mich ein bisschen, gucke CNN in einer Highwayraststätte. Bin um fünf Uhr früh zu Hause.

3. November, 8 Uhr

Wache auf und mache den Fernseher an. Das Wahlkampfteam von Bush verkündet seinen Sieg, aber Kerry (so heißt es) ist nicht bereit, sich geschlagen zu geben. Ein Experte für irgendwas fragt sich laut, ob es das Kerry-Team riskieren will, wie schlechte Verlierer auszusehen und »das Land einer unnötigen Belastung auszusetzen«, indem sie auf die Auszählung der vorläufigen Stimmen in Ohio warten. Ich würde allerdings ein paar Tage Belastung vier Jahren mit dem falschen Präsidenten vorziehen, aber so bin ich halt.

Ich wechsle das Programm: »Bush hat einen gewaltigen Sieg errungen … hat ein Mandat … die Demokratische Partei muss sich sehr verändern, um wieder relevant zu werden und die Mehrheit der Amerikaner anzusprechen.« Wow! Stell dir vor, Bush hätte fünf statt drei Prozent mehr Stimmen als Kerry gekriegt!

Hetze zur Arbeit. Als ich dort ankomme, ist es vorbei. Kerry hat sich geschlagen gegeben. Mit Ryan entwickle ich einen Plan (zufälligerweise den gleichen, den wir beide vor vier Jahren hatten): nicht mehr fernsehen und keine Zeitung mehr lesen. Lynn sagt, dass die Stimmung hier ist wie bei einer katholischen Beerdigung; ich diskutiere das mit meinem Studenten Andrew, dessen bester Freund letzte woche gestorben ist, und er sagt, dass der Vergleich nicht ganz verkehrt ist.

Unterrichte bis zehn Uhr abends, gehe zurück nach Hause, völlig erschöpft.

4. November

Gestern – ich schwöre, dass ich mir das nicht einbilde –, ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, als Kerry seine Niederlage eingestand, wurde es plötzlich sehr kalt. Heute morgen regnet es, und die Bäume haben die meisten ihrer Blätter verloren. Ich sehe die Sonntagszeitung neben dem Sofa, und sie sieht aus, als sei sie aus dem letzten Jahrhundert. Ich rufe an und kündige mein Abo.

Aus dem Amerikanischen von Martin Schuster.

Der Foto- und Videokünstler David Reed lebt und arbeitet in Baltimore. In Jungle World veröffentlichte er seine Arbeiten »The Circumstantial & the Evident 1 & 2« (5 und 6/99), »Mein 9. November« (48/99), »Heaven can wait« (22/00), »The Media Zone« (36/00), »Chad Fever« (50/00), »11. September« (43/01), »Just Stuff« (26/02) und »Exile in Armenia« (14/03). »Exile in Armenia II – The Return« (27/03)