Aus Not solidarisch

In Brasilien ist die Gründung von selbst verwalteten Fabriken zur Strategie gegen die Massenarbeitslosigkeit geworden. Eine Reise in die Welt des »neuen Kooperativismus«. von astrid schäfers (text und fotos)

Ob »solidarische Ökonomie«, »soziosolidarische Ökonomie« oder »solidarische Volksökonomie«, spätestens seit dem Weltsozialforum 2003 in Porto Alegre ist der Begriff in aller Munde. Die Idee ist, Produktion auf kollektiver Solidarität beruhend zu organisieren. Die ArbeiterInnen verwalten die Produktion selbst und erhalten kein Gehalt, sondern einen Verdienst, der ihrer Arbeit entspricht.

In Brasilien wurden mit der Deindustrialisierung in den achtziger Jahren Millionen Arbeitsplätze gestrichen. Seit der Schuldenkrise 1983 nahm die strukturelle Massenarbeitslosigkeit weiter zu. Als Präsident Fernando Collor den brasilianischen Binnenmarkt für Importe öffnete, überschwemmten Produkte von ausländischen Zulieferern den brasilianischen Markt. Weitere Betriebe gerieten in die Krise und endeten im Konkurs. Oft nutzten die Arbeiter mit Unterstützung der Gewerkschaften die von der Gesetzgebung vorgesehene Möglichkeit, die Konkursmasse der Unternehmen zu mieten oder zu erwerben. In den letzten fünf Jahren hat die Gründung von Kooperativen und Vereinigungen geboomt. Sich zusammenzuschließen, gemeinsam etwas zu produzieren, zu verkaufen oder einen Kredit anzusparen: Das hat sich für viele als Überlebensstrategie erwiesen.

Nicht alle Initiativen sind jedoch darauf aus, Autonomie und Selbstbestimmung der ArbeiterInnen zu erreichen oder die lokale Wirtschaft zu fördern. Viele nutzen die Gesetzeslücke zwischen dem vorhandenen Gesetz für Kooperativen und der selbstverwalteten Betrieben eher entgegenstehenden Gesetzgebung für prekäre Beschäftigung. So ist Vanessa, 28, Lehrerin an der Universität Fortaleza, pflichtgemäß Mitglied der Riesenkooperative Cooperdata, die Angestellte verschiedener Sektoren vereinigt. Da sie jetzt für Cooperdata beschäftigt ist, braucht die Universität keine Sozialversicherung für sie zu bezahlen. Ansonsten hätte die Privatuniversität Vanessa nicht eingestellt. Die Arbeit in einer Kooperative bedeutet keineswegs, einen formellen Arbeitsplatz zu haben. Viele Kooperativen sind nirgendwo registriert.

Die Agentur für solidarische Entwicklung ADS wurde 1998 von der Gewerkschaft CUT gegründet. Sie berät ArbeiterInnen, die sich auf der Straße wiederfinden, bei der Übernahme der Produktion und ist in fast allen Bundesstaaten vertreten. Laercio arbeitet bei der ADS in São Paulo und ist für die Unterstützung von Kooperativen bei der Vermarktung ihrer Produkte zuständig.

São Paulo ist eine der wenigen hoch industrialisierten Regionen Brasiliens. Viele Unternehmen der Schwermetallindustrie gingen in den letzten Jahren bankrott. Wenn man am nach Öl stinkenden Fluss Tietê entlangfährt, kommt man in die Region ABC Paulista. Hier liegt Salto, eine Vorstadt von São Paulo, die etwa 1 000 Einwohner zählt, wo die Kooperative Metalcoop ihren Sitz hat. Sie produziert Gangschaltungssysteme und Kupplungen für Autos. José koordiniert die Produktion: »Wir wandeln monatlich 400 Tonnen Stahl in Zulieferprodukte um und verkaufen sie an das US-Unternehmen Dana«, erzählt er stolz. Als das Unternehmen vor zwei Jahren bankrott ging, blieben nur 120 der ursprünglichen 600 Arbeiter, um die Produktion wieder aufzunehmen. Die Maschinen sind relativ alt, sie stammen fast alle aus Deutschland. Die Arbeiter hatten gerade Pause und kommen in ihren Uniformen zurück. Jeder geht an seine Maschine. Man fragt sich, warum hier die von Marx kritisierte Entfremdung der Arbeit nicht existieren sollte. Jeder Arbeiter tätigt tagein, tagaus dieselben Handgriffe. »Die Arbeiter müssen sich nach dem Aufseher richten, sonst geht der Produktionsablauf durcheinander«, erklärt José.

Oft haben die ArbeiterInnen, die die Fabriken übernehmen, Schwierigkeiten, die Arbeit zu koordinieren oder Käufer für ihre Produkte zu finden.

Wie bei Coopersound, die Lautsprecher produziert und bisher kaum Abnehmer hat. Die Kooperative ist hoch verschuldet. Waldemiro, der die Produktionsleitung übernahm, wirkt etwas verunsichert durch den unerwarteten Besuch der ADS. Er kennt die Organisation nicht. Laercio bietet ihm Hilfe beim Absatz der Lautsprecher an. Er will der Coopersound Kunden in São Paulo verschaffen. Waldemiro scheint sich nicht sicher zu sein, ob er mit dem Ableger einer Gewerkschaft zusammenarbeiten will.

Von den ursprünglichen 700 Angestellten arbeiten hier nur noch 43, davon sind 70 Prozent Frauen, die vor allem kleine Elemente montieren. Die Atmosphäre wirkt entspannt, bei der Arbeit wird Musik gehört, man darf sich in der Fabrik frei bewegen, es gibt auch keine strenge Pausenregelung. Garete erzählt, sie habe schon vorher in dieser Fabrik gearbeitet. Als diese pleite ging, entschied sie sich, Mitglied der Kooperative zu werden: »Meine Tätigkeit hier hat mir immer gut gefallen, sowohl in der alten Firma als auch bei Coopersound.« Von solidarischer Ökonomie hat sie noch nie etwas gehört.

Die Zulieferkooperative Coopersalto ist ein Zusammenschluss von acht Familien, die Kabel produzieren. Vor ein paar Monaten verschwand der Chef des Unternehmens und die Arbeiter zerstritten sich. Sie transportierten die Maschinen auf ein anderes Gelände und begannen, die Produktion wieder aufzunehmen. Um eine der ehemals sechs Produktionslinien wiederaufzubauen, brauchten die 22 Arbeiter zwei Monate. Fernando, der Produktionsleiter, erzählt, dass er die Wiederherstellung der Produktion mit einem Kredit der Banco do Brasil finanzierte: »Der Zugang zu ›Proger‹, dem Kreditförderprogramm der Regierung, bei dem Mikrokredite mit niedrigem Zinssatz vergeben werden, ist ein wahnsinniger bürokratischer Aufwand und zieht sich oft über zwei Jahre hin. So lange können wir nicht warten.« Für die Kreditlinie Proger gelten die üblichen Kriterien: Wer einmal einen Kredit nicht zurückzahlt, hat keine Chance, nochmals einen zu bekommen. Für Diskussionen über die interne Organisation des Unternehmens bleibt kaum Zeit. Die Kooperative kämpft erst mal ums Überleben, denn in dieser hoch industrialisierten Region Brasiliens ist die Konkurrenz sehr groß. Zulieferkooperativen, die sich in die kapitalistische Produktion einfügen müssen und abhängig vom Marktpreis sind: Wo bleibt da die Muße für eine demokratische Struktur?

Die Fruchtsaftkooperative Coopagre gehört dem Projekt Novas Amafrutas, im Norden Brasiliens, in der Peripherie von Belêm. Sie ist ein Vorzeigeobjekt als selbstverwaltete Fabrik. Das Projekt beschäftigt 1 300 Familien, die Orangen und Maracuja anbauen, und 84 Arbeiter in der Fabrik. Coopagre kümmert sich um die Ausbildung der Arbeiterkinder in der betriebseigenen Schule, die auch Kurse für »solidarische Betriebsführung« anbietet. In der Generalversammlung werden alle Entscheidungen über die Organisation der Produktion und den Verkauf getroffen und sind bei nur einer Gegenstimme ungültig.

George kontrolliert die Einstellung der Saftpressen. Er meint, er sei hier motivierter als in seiner alten Firma, weil er in der Kooperative entsprechend seiner Arbeit und nicht immer gleich bezahlt werde. Novas Amafrutas exportiert bereits nach Kanada, in die USA, nach Holland und in die Schweiz: »Unser Abnehmer in der Schweiz ist der Multi Suissa Pacina, der weltweit 70 Prozent der Fruchtsaftgeschäfte betreibt«, erklärt Avelino Ganzer, der Direktor der Kooperative. »Klar verkaufen wir an diese Firma, solange wir keine solidarischen Partner haben.«

Im ärmeren Nordosten gelingt die Schaffung von Kooperativen und Verkaufsvereinigungen oft nur im Rahmen von internationalen Projekten, die von NGO gefördert werden, wie etwa dem Projekt Banco Palmas. Die »Bank« Palmas wurde 1998 vom Verein der Bewohner von Conjunto Palmeiras gegründet, einer Armensiedlung am Rande von Fortaleza. Die Siedlung ist 1973 entstanden. Damals wurden die Bewohner von Beira Mar, dem Strand von Fortaleza, wegen dem Bau von Hotels in ein Gebiet vertrieben, wo es nichts außer Schlamm und Ödland gab. 1981 entstand hier der Verein, der inzwischen verschiedene Projekte koordiniert. Das relativ kleine Gelände, auf dem Banco Palmas entstanden ist, liegt an der Haupteinfahrtsstraße von Conjunto Palmeiras und besteht aus ein- bis zweiräumigen Häuschen. Hier sind eine Reinigungsmittelfirma, eine Nähkooperative und eine Schule untergebracht. In der Nähkooperative Palmafez arbeiten Frauen, die über die incubadora feminina vermittelt wurden. Die incubadoras (»Brutkästen«) sind Einrichtungen, die es bislang vor allem an Universitäten gab. Sie bieten Personen, die eine Vereinigung oder eine Kooperative gründen wollen, eine Beratung durch Fachleute an. Damit soll die Gründung von Kooperativen erleichtert werden.

Dacilia ist eine Koordinatorin der incubadora feminina, die sich an Frauen richtet, die kein oder ein zu geringes Einkommen haben. Sie ist verwitwet, hat vier Kinder und arbeitet bereits seit vier Jahren in der Nähkooperative. »Ich bin froh, hier arbeiten zu können. Hier habe ich viel mehr Freiheit als in den Firmen, für die ich vorher gearbeitet habe, und kann selber bestimmen, wie ich mich organisiere. Ich bin hier von 8 bis 18 Uhr, komme früher als die anderen, öffne die Tür, bereite etwas vor. Samstags habe ich hier einiges zu tun, kümmere mich um die anderen Frauen der incubadora, oft haben sie Probleme mit den Kindertagesstätten. Sonntags nehme ich mir Zeit für meine Kinder.« Dacilia scheint sich im sozialen Umfeld des Vereins sehr wohl zu fühlen, die Kooperative ist mehr als nur ein Arbeitsplatz für sie.

In der Nähkooperative arbeiten 18 Frauen. Sie bekommen zugeschnittene Stoffstücke geliefert, aus denen sie Jeans nähen. In vielen Kooperativen erfolgt Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern nach traditionellem Muster: Frauen verrichten eher Handarbeit, während Männer an größeren Maschinen arbeiten. Maria arbeitet seit sechs Monaten bei Palmafez, vorher war sie bei der Nähzulieferfirma »100% Radical« in der Nachbargemeinde São João beschäftigt. Sie ist froh, einen Platz bei Palmafez gefunden zu haben, denn die Nachfrage bei der Kooperative ist groß: »Ich arbeite lieber in einer Kooperative, denn hier ist man über alles, was passiert, im Bilde«, sagt sie. »Wir nähen nur für brasilianische Firmen, denn wir wollen die lokale Wirtschaft fördern«, erklärt Lena, die die Arbeit der Näherinnen koordiniert.

Der Verein hat auch eine lokale Währung geschaffen, den Palmas. Ein Palmas entspricht dem Wert eines Real. Einige Betriebe und Bars akzeptieren Palmas, denn dieser garantiert, dass das Geld in Conjunto Palmeiras bleibt. Der Banco Palmas ist keine registrierte Bank, sondern ein Projekt.

Im Gegensatz zum Banco do Povo in Belêm verleiht diese »Bank« Geld auch weiterhin an Personen, die den Kredit nicht pünktlich zurückgezahlt haben: »Wir lehnen die Kriterien der Banken ab. Uns geht es nicht in erster Linie darum, den Kredit zurückzubekommen. Wir wollen, dass die Leute produzieren können. Wenn jemand einen Kredit aufnehmen will, um zum Beispiel Sandalen zu produzieren, werden bei den Nachbarn dieser Person Referenzen geholt. Wir fragen sie, ob die Person vertrauenswürdig ist, ob sie glauben, dass sie wirklich vorhat, Sandalen zu produzieren usw. Wir machen das, um zu verhindern, dass das Projekt missbraucht wird. Vor zwei Wochen kam zum Beispiel Roberto hierher und erklärte, er habe die Monatsrate des Kredits nicht zahlen können, weil er einen Rollstuhl für seine Schwester kaufen musste. Wir haben eine verspätete Zahlung dann zugelassen und erneut Geld an ihn verliehen. Unser System basiert auf Ehrlichkeit. Wenn sich herausstellt, dass jemand aus der Gemeinde unehrlich war, dann wird er in der Generalversammlung und im lokalen Radio öffentlich kritisiert«, erklärt Sandra Magalhães, eine der Vorsitzenden des Vereins.

Die »Bank« hat zurzeit Kredite an 1 200 Familien vergeben, weitere 500 stehen auf der Warteliste. Das Kreditvolumen beträgt bisher nur 12 000 Euro. »Es gibt hier bereits ein Mikrokreditprogramm der Nordostbank, das Kredite zu einem Zinssatz von zwei Prozent vorsieht. Diese Möglichkeit haben bisher nur 100 unserer 30 000 Einwohner genutzt. Wir haben viele Leute gefragt, warum sie keinen Kredit bei der Nordostbank aufnehmen. Einige trauen sich nicht, zu den Geschäftsbanken zu gehen. Viele können auch die Kriterien für diesen Kredit nicht erfüllen«, erklärt Sandra weiter. Das Kreditsystem der Banco Palmas basiert auf Spenden von internationalen Institutionen und NGO, wie Oxfam oder der britischen Botschaft.

Der Banco do Povo in Belêm, der von der Stadt gefördert wird, hat bereits ein wesentlich größeres Kreditvolumen erreicht. Er vergibt allerdings Mikrokredite zu den üblichen Bedingungen und auch für individuelle Projekte. Eine Bedingung ist die Teilnahme an verschiedenen Kursen über Rechnungswesen, solidarische Ökonomie, Marketing usw. Sie werden von Studenten abgehalten, die dafür ein Stipendium von der Bank bekommen. Der Banco do Povo fördert beispielsweise die Verkaufskooperativen und -vereinigungen des Mercado de São Braz, der im Zentrum von Belêm liegt und aus mehreren heruntergekommenen Markthallen im Kolonialstil besteht. Die Gebäude bröckeln an allen Seiten und werden wohl nicht mehr lange Schutz vor Regen bieten. Kein Wunder, dass die Stadt von Kräuter-, Nahrungsmittel- und Kleidungshändlern keine Steuern verlangt.

Joselita verkauft hier Kleidungsstücke. Sie gehört zur Vereinigung der Konfektionshändler: »Die meisten in der Vereinigung wollen nur Geld von der Stadt haben, aber nichts riskieren. Ich würde gerne die Verkaufsstände zu einer Galerie ausbauen lassen, die anderen Mitglieder wollen aber möglichst kein Geld ausgeben. Sie sagen, sie könnten das nicht bezahlen, und sind nur einverstanden, wenn die Stadt die Renovierung komplett übernimmt. Die Stadt hat angeboten, die Renovierung durchzuführen, wenn die Vereinigungen einen Anteil von 20 Prozent übernehmen würden. Ein Viertel der Mitglieder meiner Vereinigung hat bei der Versammlung gegen die Renovierung des Marktes gestimmt.«

Siehe auch Interview Seite 18