Hundert Jahre Zweisamkeit

Rafik Schamis »Dunkle Seite der Liebe« ist eine zauberhafte Liebesgeschichte, eine brillante Gesellschaftsanalyse und eine heitere Familiensaga.

Es gibt Bücher, sehr dicke Bücher sogar, die man verschlingt wie Himbeereis. Man liest sie in rasendem Tempo, um gegen Ende die Lektüre zu dosieren und den unvermeidlichen Abschied hinauszuzögern. Rafik Schamis neuer Roman gehört zu diesen Büchern. Ein opulentes, sinnliches, märchenhaftes, gottloses, trauriges und witziges Epos, so arabisch wie universalistisch, antiautoritär und im besten Sinne des Wortes humanistisch, ohne je ins Appellative zu verfallen. Im Mittelpunkt des Romans stehen die Liebenden Farid und Rana, die zwei verfeindeten christlichen Sippen angehören. Eingebettet ist die Lovestory in einen Kriminalfall, dazwischen werden die Lebenswege dreier Generationen aus beiden Clans sowie etliche weiterer Figuren geschildert. Kindheitserzählungen wechseln mit politischen Betrachtungen, die durch unzählige Anekdoten und Parabeln angereichert werden. Und nebenbei, als lebendiger Teil der Erzählung, eröffnet sich die Geschichte Syriens vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre.

Sogar der Kutscher Salim aus Schamis Roman »Erzähler der Nacht« (1989) hat einen kleinen Auftritt, über den man sich freut, als begegnete man unverhofft einem alten Freund. Im letzten Kapitel, einer Art Nachwort, berichtet Schami, dass er als Teenager ansehen musste, wie eine junge Muslimin wegen ihrer Liebe zu einem christlichen Mann von ihrem Bruder auf offener Straße ermordet wurde. Er beschloss, einen Roman über »alle Spielarten der verbotenen Liebe in Arabien« zu schreiben, den er nach jahrzehntelanger Arbeit nun vollendet hat.

Auch dieser Roman ist eine Liebeserklärung an das Damaskus der vierziger bis sechziger Jahre. Aber Schami verklärt nichts, auch in den geliebten alten Gassen der Stadt lauern Ignoranz, Unfreiheit, Verrat und Armut.

Verboten und damit Schamis Thema ist die Liebe jenseits der Religions- und Standesgrenzen, die außereheliche und die gleichgeschlechtliche Liebe, von der er mal zärtlich, mal derb, aber immer farbenfroh erzählt. Nur ein sagenhaft langer Schwanz, dessen Geschichte sich allzu sehr in die Länge zieht, bildet ein kleines Ärgernis. Der Roman ist ein Mosaik aus 304 Bausteinen voller zeitlicher Sprünge und wechselnder Figuren. »Jeder dieser Steine«, heißt es im Nachwort, »erzählt eine Geschichte, und wenn du sie gelesen hast, gibt sie dir ihre geheime Farbe, und sobald du alle Geschichten gelesen hast, siehst du das Bild.« Mehr als der Stoff ist es diese ornamentale und üppige, aber nie zerfahrene Erzählweise, die den promovierten Chemiker Schami als deutschsprachigen arabischen Autoren kenntlich macht. Der männliche Protagonist trägt deutlich autobiographische Züge. Wie Schami entstammt er einer christlich-aramäischen Familie, engagiert sich in der Kommunistischen Partei und flieht um 1970 nach Deutschland.

Und wie der Autor, der mit bürgerlichem Namen Suheil Fadél heißt (Rafik Schami, auf Deutsch »Freund der Damaszener«, war ursprünglich sein nom de guerre in der KP), tragen Farid und Rana Namen, welche sie nicht eindeutig als muslimische, christliche oder jüdische Syrer identifizieren. Auch dieser Roman ist eine Liebeserklärung an das Damaskus der vierziger bis sechziger Jahre. Aber Schami verklärt nichts, auch in den geliebten alten Gassen der Stadt lauern Ignoranz, Unfreiheit, Verrat und Armut. In »Der ehrliche Lügner« (1992) schrieb Schami: »Seit einer Ewigkeit hießen alle Präsidenten der Republik Hadahek. Die Führer der Opposition hießen ebenso Hadahek, und die Rebellen in den Bergen hießen auch Hadahek. Wer siegte, der regierte und hieß immer Hadahek.

 

Die Macht der Sippen

Hadahek bedeutet auf Arabisch: »Das ist so«. Diese spielerisch-ironische Form, mit der Schami seine abgrundtiefe Verachtung für die arabischen Herrscher ausdrückt, findet sich auch in seinem neuen Roman. Die Machthaber erscheinen allesamt als korrupt, diktatorisch, primitiv und unfähig. Das Problem sind nicht die einzelnen Herrscher, die so austauschbar sind, wie sie durch die zahllosen, von österreichischer Marschmusik im Radio begleiteten Putsche tatsächlich ausgetauscht werden. Das Problem ist ein System, das diese verdorbenen Charaktere pausenlos reproduziert. Zudem leidet die arabisch-islamische Welt – die christliche Herkunft der meisten Figuren ändert für Schami nichts an dieser kulturellen Prägung – an der Macht der Sippen, die keinerlei Individualität zulassen. Und sie krankt an einem irren Ehrenkodex, der sich um die Jungfräulichkeit der Frau dreht. Während die christlich-abendländische Tradition, schreibt die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi, die Sexualität als solche für teuflisch und antizivilisatorisch halte, bekämpfe der Islam »nicht die Sexualität, sondern die Frau«. Oder, um es mit Schami auszudrücken: »Komisch, dass die Männer, die die Frauen sonst kaum achten, ihre ganze Ehre dorthin verlegen, wo die Frau pinkelt.«

Auch die gesellschaftlichen Strukturen reproduzieren sich ständig. Dass etwa Farids Großvater, der Sippengründer George Muschtak, eine Muslimin liebt und dafür schreckliche Folgen in Kauf nimmt, bewahrt ihn nicht davor, Jahre später selbst zu versuchen, seinen Sohn gegen dessen Willen zu verheiraten. Fast überall erkalten Leidenschaft und Zärtlichkeit; selbst wer in jungen Jahren gegen die autoritären und patriarchalen Verhältnisse rebelliert, wird irgendwann zum Mini-Hadahek seiner Familie. Dass Schamis Bücher inzwischen in 23 Sprachen, aber nicht auf Arabisch erschienen sind, sagt ebenso viel über sein Werk wie über den Zustand der arabischen Welt. »Für mich ist das der höchste arabische ›Literaturpreis‹, aber es schmerzt trotzdem«, schrieb er jüngst im Tagesspiegel. Auch wenn sich Schami vom »politischen Roman« distanziert, ist »Die dunkle Seite der Liebe« ein hochpolitischer Gesellschaftsroman. In den ausnahmslos begeisterten Kritiken wird dies erkannt, während der politische Lebensweg des Protagonisten ausgeklammert bleibt. Dieser habe, bemerkt Fritz J. Raddatz in der Zeit verschämt, »für kurze Zeit der KP nahe gestanden«. Tatsächlich gehört der politische Kampf zu den Elementen, die die Figur kennzeichnen. Auch nach seinem Zerwürfnis mit der KP und einer Zwischenstation bei den »Radikalen« bleibt Farid ein Linker. Diese universalistische Perspektive aber entzieht sich anscheinend dem Paternalismus eines westlichen Feuilletonredakteurs, der die Verhältnisse im Orient schlimm, die daheim aber schwer in Ordnung findet.

 

»Auch die KP-Führung«, resigniert er schließlich, »behandelt ihre Mitglieder wie kastrierte Schafe. Sie müssen gehorchen und werden geschoren, gemolken und geschlachtet, aber auf keinen Fall dürfen sie Lust an irgendetwas bekommen.«

Die tragische Geschichte vieler arabischen Kommunisten

Dabei ist auch Farids politische Biographie mitreißend und traurig gezeichnet. Er muss erfahren, dass die Partei, der er die Liebe seines Lebens unterordnet und für die er zu sterben bereit ist, von Angehörigen derselben feudalen Clans geführt wird, die das übrige Land beherrschen; dass die »Partei mitverwalten, aber nichts umstürzen will«, wie seine kiffende feministische Cousine Laila sagt. »Auch die KP-Führung«, resigniert er schließlich, »behandelt ihre Mitglieder wie kastrierte Schafe. Sie müssen gehorchen und werden geschoren, gemolken und geschlachtet, aber auf keinen Fall dürfen sie Lust an irgendetwas bekommen.« Zugleich ist die Geschichte der syrischen wie die vieler arabischer Kommunisten eine tragische. Als sich die Sowjetunion mit dem Regime in Damaskus verbündet, bleiben sie im Lager, nun erhalten ihre Peiniger sogar Hilfe von Folterexperten aus der DDR. Für syrische und sonstige Linke noch niederschmetternder ist folgende Episode: Farid lädt eines Tages einige Genossen zu einem Fest in seinem Viertel ein. Während die anderen Gäste feiern, verharren die KP-Leute stocksteif in der Ecke. Bald darauf kriegen Farid und ein Mitstreiter Ärger, weil sie als Redakteure der illegalen kommunistischen Jugendzeitschrift statt über sowjetische Landwirtschaft über Liebe, Sexualität und andere interessante Dinge geschrieben hatten. Es kommt zu einem Disziplinarverfahren: »Die drei Genossen, die auf dem fröhlichen Fest nur mit tristen Ausdruck dagesessen hatten, wirkten hier völlig entspannt und lächelten unentwegt.« Nach seiner ersten Inhaftierung, Farid arbeitet inzwischen als strafversetzter Lehrer an der syrisch-israelischen Grenze, schließt er sich einer militanten Gruppe an, besucht ein palästinensisches Trainingscamp und beteiligt sich an einer bewaffneten Aktion in Israel. Mehr als diese knappe Notiz erfahren wir nicht. Gewiss, mehrfach wird ironisch kritisiert, dass den arabischen Potentaten die Existenz Israels als Generalerklärung für die Misere im eigenen Land dient. Als Mitglied einer linksradikalen arabischen Gruppe jener Zeit aber muss auch Farid gegen die Existenz Israels kämpfen. »Ich glaube an die Menschen und Tiere, die meine Geschichten bevölkern«, notierte Schami in seinem Tagebuch »Mit fremden Augen« (2002), einem verzweifelten Plädoyer für Frieden im Nahen Osten.

Auch in seinem Roman ist offenkundig, welchen Figuren seine Zuneigung gilt: Rana und Farid, ferner Leila, Farids tapferer Mutter Claire, seinem scharfsinnigen Freund Josef, der leider Nasser verehrt und dafür mit einem hässlichen Äußeren bestraft wird. Von Farids antiisraelischem Einsatz zu berichten, hätte den Glauben des Autors an seine Hauptfigur erschüttert, und wohl deshalb bleibt Schami an dieser Stelle ungewohnt einsilbig. »Unauffällig, während wir unsere Zukunft träumen, rinnt das Leben wie Sand durch unsere Finger. Das kleine Häuflein, das auf der Handfläche übrig bleibt, sind nur Erinnerungen an das Leben«, sagt Rana einmal. Sie wird zur Ehe mit ihrem Cousin gezwungen und beginnt, »tote Frau« zu spielen, also »mit der Seele weit fort zu reisen und von einem hohen, fernen Ort zu beobachten, was der Mann mit der Leiche im Bett treibt«. Obwohl alles dagegen spricht, endet die Liebesgeschichte glücklich. Angesichts einer arabesken Kultur, die den Schmerz, die hoffnungslose Liebe, den Tod verherrlicht und das ewige »Das ist so« in die Köpfe der Menschen meißelt, ist dieses Ende nicht kitschig, sondern subversiv, schön ist es sowieso. Und nicht unrealistisch, schließlich eröffnet sich den Liebenden die Aussicht auf das private Glück nur im Exil. Gerne hätten wir erfahren, ob Farid und Rana ihre späte Chance nutzen können. Aber das, würde Rafik Schami wohl sagen, ist eine andere Geschichte. Vielleicht erzählt er sie uns einmal.

 

Rafik Schami: Die dunkle Seite der Liebe. Hanser, München 2004. 896 S., 24,90 Euro