Neue Einsichten in der Kochstraße

Bettina Gaus entdeckt den Antisemitismus. Dank Philipp Gesslers Buch für Einsteiger. von ivo bozic
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Gleich vorweg: Für langjährige Jungle-World-Leser ist dieses Buch nichts. Sie kennen jede dort vorgetragene These, deren Antithese und die Diskussionen darum, und zwar differenzierter und tiefergehend, als es in diesem Büchlein präsentiert wird. Die Personen, die dort auftauchen, zitiert und interviewt werden, kennen sie allesamt als Redakteure, Autoren, Interviewpartner, Protagonisten und Stichwortgeber dieser Zeitung. Weil aber Weihnachten vor der Tür steht, soll auf diese Neuerscheinung hingewiesen werden, denn vielleicht gibt es im Freundeskreis Leute, die noch nie davon gehört haben, dass Antisemitismus gelegentlich auch bei Linken und Nichtdeutschen vorkommt, und die sich das auch kaum vorzustellen vermögen. Leute, für die Antisemitismus nur etwas mit Hitler und der NPD zu tun hat. Für diese Bekannten könnte das Buch von Philipp Gessler »Der neue Antisemitismus« eine erste Einführung sein.

Für Leute wie Bettina Gaus etwa. Die taz-Star-Reporterin offenbarte bei der Vorstellung des Buches in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin eine derart große Portion Naivität, dass man als jemand, der die linken Debatten der letzten zehn Jahre nur halbwegs verfolgt hat, vor Schreck fast vom Stuhl zu kippen drohte. Ganz, ganz wichtig sei dieses Buch, erklärte Gaus, auch wenn sie die Ansichten nicht alle teile, aber dass auch Linke, ja wir alle, mit dem Virus des Antisemitismus infiziert sein könnten, das sei eine derart wichtige und provozierende These, dass dieses Buch unbedingt zu empfehlen sei. Allerdings mische Gessler die verschiedenen Formen des Antisemitismus zu sehr durcheinander, also den rechten, den linken und den »muslimischen«.

Dabei hat der Autor sich diesbezüglich nichts zuschulden kommen lassen. Das Buch ist brav aufgeteilt in ein Kapitel über den rechten, eines über muslimischen und eines über linken Antisemitismus. Nur das Kapitel über den Antisemitismus der bürgerlichen Mitte hat er wohl vergessen. Das Versäumnis des Buches ist eher, die Schnittstellen zwischen diesen Erscheinungen nicht sauber genug herausgearbeitet zu haben. Seine These, dass »die gemeinsame Ablehnung der Moderne« das entscheidende Verbindungsglied sei, ist gewagt und schlecht belegt.

Kritik gab es bei der Präsentation auch vom Islamwissenschaftler Michael Kiefer. Zu Recht kritisierte er, dass Gessler durchgängig von »muslimischem« Antisemitismus spricht, wenn er den in der arabischen Welt verbreiteten Antisemitismus meint. Kiefer stellte klar, dass dieser Antisemitismus kaum auf den Koran und den muslimischen Glauben zurückzuführen ist und deshalb besser von »islamisiertem« Antisemitismus zu sprechen sei. Er vertritt darüber hinaus die These, dass ein Großteil des im arabischen Raum virulenten Antisemitismus ein europäischer Import ist. Mit solchen Feinheiten gibt sich Gessler aber gar nicht erst ab.

Er spitzt zu. Antisemitismus sei integraler Bestandteil der europäischen Kultur, erkennt er richtig, und dass Antizionismus meist versteckter Antisemitismus sei. Es ist erfreulich, dass der taz-Redakteur über die Arbeit für dieses Buch zu neuen Einsichten gefunden hat. Es ist noch gar nicht lange her, da schrieb er in der taz, Antideutsche seien »Israelfreunde bis zur Karikatur«, indem sie meinen, »der Einsatz für die Existenz Israels« sei »eine Voraussetzung für eine emanzipatorische Politik« und »ein Essential linker Politik«. Worüber sich Gessler vor kurzem noch lustig machte, erklärt er heute selbst mit Nachdruck. Neu ist der »neue Antisemitismus« für den einen eben mehr und den anderen weniger.

Philipp Gessler: Der neue Antisemitismus – Hinter den Kulissen der Normalität. Herder, Freiburg 2004, 158 S., 9,90 Euro