Abgereist aus Ruinen

Viele tschetschenische Zivilisten haben genug vom Krieg. Zehntausende sind bereits nach Europa geflohen, einige hundert nach Berlin. von christoph villinger

Wie sie es nach Berlin geschafft hat, bleibt ihr Geheimnis. Jana Isamova* ist 51 Jahre alt und Tschetschenin. »Ich bin während des ersten und des zweiten Krieges in Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens, geblieben«, erzählt sie. 1994, zu Beginn des Krieges, saß sie über einen Monat in einem Keller, seitdem sind ihr Gedächtnis und ihr Sehvermögen geschwächt, außerdem leidet sie an Bluthochdruck. Vor einem Jahr starb ihr Mann. »Immer träume ich von Militärkolonnen, die überall da sind, wo ich auch bin, und von Flugzeugen, die Bomben abwerfen«, sagt sie. Schließlich hatte sie keine Kraft mehr, »all das, was ich gesehen habe, wieder zu sehen«. So reiste sie ohne Visum nach Deutschland.

Jana Isamova ist nur eine von mehreren hundert Menschen aus Tschetschenien, die in den vergangenen Monaten bei Xenion vor der Tür standen, einer Einrichtung, die psychosoziale Hilfe für politisch Verfolgte in Berlin anbietet. Gemeinsam mit dem Flüchtlingsrat Brandenburg und der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft machte Xenion kurz vor Weihnachten mit einer Pressekonferenz auf die neue Entwicklung aufmerksam. »Seit August kommen vermehrt tschetschenische Flüchtlinge über die Oder«, berichtete Judith Gleitze vom Flüchtlingsrat. Der Bundesgrenzschutz (BGS) schicke alle Flüchtlinge, die er an der Grenze erwische, innerhalb von vier bis sechs Wochen zurück nach Polen. »Und dies, obwohl viele der Männer und Frauen extrem traumatisiert sind und panische Angst haben, zurückgeführt zu werden«, sagt Gleitze. Nur wer es bis Berlin schaffe, könne hier einen Antrag auf Asyl stellen und habe gute Chancen, in einer Wohnung untergebracht zu werden.

Wie viele Flüchtlinge aus Tschetschenien in der Hauptstadt leben, vermag Gleitze nicht zu sagen, sie schätzt aber, dass sich im Augenblick etwa 30 000 bis 35 000 »westlich der Oder« befinden, davon etwa 4 500 in Deutschland und 400 in Berlin. Genaue Zahlen sind schon deshalb nicht zu erhalten, da Tschetschenen als Bürger der Russischen Förderation registriert werden. So ist auch die von Gleitze genannte »Verzehnfachung der Flüchtlingszahlen« nur ungefähr zu belegen. Im Jahr 2003 seien an den Ostgrenzen der Slowakei und Österreichs »jeweils etwa knapp 1 000 Bürger der Russischen Förderation aufgegriffen worden, 2004 waren es dort jeweils schon über 9 000«, sagt sie. Inzwischen hat sogar die deutsche Innenministerkonferenz die neue Situation erkannt, beim nächsten Treffen im Juni dieses Jahres steht der Umgang mit den tschetschenischen Flüchtlingen auf der Tagesordnung.

Libkan Basaeva aus Tschetschenien, Mitglied der gesamtrussischen Menschenrechtsorganisation Memorial, bestätigt die Entwicklung. Vor wenigen Tagen konnte sie in Stockholm für ihre Organisation den alternativen Nobelpreis in Empfang nehmen. Seit fünf Jahren arbeitet Basaeva für Memorial in Grosny und versucht, die Dimension des Krieges deutlich zu machen: Tschetschenien hat eine Million Einwohner und ist kleiner als Schleswig-Holstein. 30 bis 40 Prozent der Häuser seien im Krieg bislang zerstört worden. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebe inzwischen in Flüchtlingslagern, bis vor kurzem vor allem in Inguschetien. Insgesamt habe der Krieg bislang knapp 200 000 Tote gefordert.

»Seit wenigen Monaten haben sich die Razzien der russischen Armee auf die Flüchtlingslager in den Nachbarrepubliken ausgedehnt«, sagt Basaeva und erklärt damit den Aufbruch vieler Menschen nach Europa. In Tschetschenien fänden Repressionen zwar inzwischen deutlich selektiver statt. »Aber Sie können noch so ein friedlicher Mensch sein und sich von der Politik fernhalten, trotzdem werden Sie von der russischen Armee als Unterstützer zum Beispiel des gemäßigten Untergrundpräsidenten Aslan Maschadow verhaftet«, berichtet Basaeva. Oft folgten den nächtlichen Verhaftungen tagelange Folterungen.

Ohne die Täter benennen zu können, da sich auch tschetschenische Gruppen untereinander bekriegen, hat Memorial im Jahr 2004 bereits 318 »Entführte« gezählt, von denen 24 ermordet aufgefunden und 161 befreit oder freigekauft wurden. 136 Menschen gelten weiterhin als vermisst. Diese Zahlen, veröffentlicht in einer Broschüre des Bildungswerks Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung, gelten nur für jene knapp 30 Prozent des tschetschenischen Territoriums rund um Grosny, zu denen Memorial Zutritt hat. Was in den Bergen los ist, weiß niemand.

Ekkehard Maaß von der deutsch-kaukasischen Gesellschaft in Berlin, der sich um tschetschenische Flüchtlinge in Berlin kümmert, berichtet von einer Aufbruchstimmung im Nordkaukasus. »Meist sind es junge Familien mit Kleinkindern, die der Perspektivlosigkeit im eigenen Land entfliehen wollen.« Oft werde auch nur ein Sohn aus einer Familie vom Familienrat nach Westeuropa geschickt, »damit das Geschlecht nicht ausstirbt«, erklärt Maaß, der selbst gerne in ethnische Diskurse verfällt und dessen Organisation sich dem Erhalt der Kulturen auf dem Kaukasus verschrieben hat (Jungle World, 28/04). Dagegen ist Basaeva von Memorial bemüht, den Standpunkt einer Zivilistin gegen die Ökonomie und Logik des Krieges einzunehmen.

Einig sind sich alle darüber, was in Deutschland geschehen muss. Die Bundesregierung solle endlich anerkennen, dass in Tschetschenien Krieg herrsche, und den Konflikt nicht als innenpolitisches Problem Russlands abtun. Was dort passiere, sei viel mehr als »antiterroristische Maßnahmen mit unverhältnismäßigen Mitteln«. Mit der Anerkennung als Kriegsflüchtlinge würden die Menschen aus Tschetschenien Schutz vor der Abschiebung in das EU-Land genießen, welches sie als erstes betraten. Meist handelt es sich dabei um Polen. Dort werden die Tschetschenen wegen der alten Rivalität Polens mit Russland zwar freundlich aufgenommen, müssen aber oft wegen fehlenden Geldes Jahre in Lagern verbringen. Auch seien Fluchtalternativen innerhalb der Russischen Förderation, die deutsche Verwaltungsgerichte wiederholt anführten, wegen des russischen Rassismus gegenüber den Bewohnern des Kaukasus eine Fiktion.

Im Augenblick dürfen nur Flüchtlinge in Berlin bleiben, die nachweislich traumatisiert sind. Selbst in diesen Fällen gibt es keinen Rechtsanspruch. Basaeva zufolge ist ohnehin jeder Flüchtling, der aus Tschetschenien kommt, traumatisiert: »Wer dort fünf Jahre gelebt hat, kann nicht mehr normal sein«, sagt sie.

Jana Isamova möchte am liebsten zu ihrem Sohn aus erster Ehe, der heute in Frankreich lebt. »Ich möchte den Rest meines Lebens in Ruhe verbringen, ohne Krieg, ohne Militärflugzeuge und Hubschrauber über mir, ohne die Geräusche der Bombenabwürfe und Artilleriegeschosse.«

* Name von der Redaktion geändert