Das Herkunftsprinzip

Damit die europäische Wirtschaft endlich richtig wächst, will die EU nationale Schutzregeln und Gesetze aushebeln. von korbinian frenzel, brüssel

Feindseligkeit gegenüber detailreichen Regelungen und bindenden Richtlinien verbindet man gemeinhin nicht mit der Europäischen Kommission. Sind doch die Brüsseler Bürokraten vielmehr bekannt für ausführliche Beschreibungen von Bananenkrümmungen und Gurkenlängen.

Gleichsam als Abschiedsgeschenk hat nun der scheidende Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein eine Direktive hinterlassen, die mit diesem Image gründlich aufräumen könnte. »Dienstleistungsrichtlinie« heißt das Werk in der deutschen Amtssprache, mit dem tausende Seiten von Vorschriften und Gesetzen der EU-Mitgliedsstaaten mit einem Handstreich ausgehebelt werden könnten. Es geht um den Sektor, der mittlerweile mehr als zwei Drittel der gesamten Wirtschaftskraft Europas ausmacht. Während der Agrarmarkt – heutzutage ökonomisch unbedeutend – schon seit Beginn der europäischen Integration vereinheitlicht ist, der Industrie- und Produktionssektor seit dem Start des Binnenmarktes 1993 weitgehend reibungslos über die nationalen Grenzen hinaus agieren, sind die Anbieter von Dienstleistungen noch zu sehr in ihren Heimatmärkten verankert, so die Analyse der EU-Kommission.

»Wir müssen dem Sektor erlauben, einen wichtigen Schritt nach vorne zu machen«, folgert der neue EU-Kommissar und Nachfolger Bolkesteins, Charlie McCreevy. Wer dem bislang im Wege steht, ist für den Iren klar. Es seien die Mitgliedsstaaten, die durch Sozial-, Umwelt- und Tarifregelungen Schutzräume für ihre Dienstleistungsbranchen schaffen und so ausländische Konkurrenten abwehren wollen. Die Methode, die die Kommission als Gegenmaßnahme anbietet, ist die simple Umkehrung eines bislang festen Prinzips im europäischen Markt. Während momentan ortsübliche Löhne zu zahlen sind und Standards des Landes eingehalten werden müssen, in dem ein Unternehmen Aufträge ausführt, sollen künftig der Betrieb und die nationale Gesetzgebung, in dem dieser seinen Stammsitz hat, das Maß aller Dinge sein.

»Wenn ein Bauunternehmen aus Portugal einen Auftrag in Deutschland bekommen wird, arbeitet es in allen Bereichen nach portugiesischem Recht und zahlt portugiesische Löhne«, beschreibt die IG Bau in einer Stellungnahme die Situation, sollte die geplante EU-Richtlinie in Kraft treten. Und damit nicht genug. Weil die EU »unfaire Kontrollen« durch die Mitgliedsländer befürchtet, die heimische Unternehmen bevorzugen könnten, will sie die dortigen Behörden entmachten. Sie hätten dann keine Kontrollrechte mehr. Die sollen stattdessen bei den mitunter mehrere tausend Kilometer entfernten Behörden des Landes liegen, in dem das Unternehmen offiziell seinen Sitz hat.

Arbeitnehmervertreter wie Verbraucherschützer sehen gerade darin einen Türöffner für Rechtsunsicherheit, die letztlich zur Rechtlosigkeit führen könnte. Das Versprechen der EU, den Bürgern durch die Liberalisierung sinkende Preise zu bescheren, müsse teuer bezahlt werden, erklärte Claire Roumet von der European Social Platform bei einer ersten Parlamentsanhörung im November. Die Prognose der Kritiker lautet dementsprechend, dass es weniger Qualität gepaart mit weniger Verbraucherrechten geben werde, weil sie de facto nicht mehr einklagbar sind.

Für rund 70 Prozent aller Beschäftigten könnte das so genannte Herkunftslandprinzip, Kernstück der EU-Dienstleistungsrichtlinie, zu einer spürbaren Verschlechterung der Arbeitsbedingungen führen. Die Österreichische Eisenbahnergewerkschaft fürchtet ein »europaweites Lohn- und Sozialdumping« in Folge der Richtlinie. Mehr Wettbewerb würde vor allem Länder mit hohen Sozialstandards unter Druck setzen. Gerade große Dienstleistungskonzerne, so die Prognose des Europäischen Gewerkschaftsbundes, stünden unter Druck, zumindest formal in EU-Länder mit niedrigeren Standards umzuziehen.

Was unter Dienstleistung zu verstehen ist, das haben die Beamten in der Direktive sehr weit gefasst. Alles, wofür Entgelte bezahlt werden, fällt unter die geplanten Liberalisierungsbestimmungen. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Transportunternehmen, Kitas, Unis, Kranken- oder Sozialkassen, die öffentlichen Dienste und Non-Profit-Sektoren sollen so aus dem staatlichen Schutzbereich herausgeholt werden und sich den Marktgesetzen stellen.

Bei der Kommission begegnet man der Kritik wie schon beim Start des Binnenmarktprojektes Anfang der neunziger Jahre mit dem Versprechen auf größeres Wachstum. Der Handel innerhalb der EU würde um 15 bis 30 Prozent wachsen, ebenso die Investitionen, erläutert Arjan Lejour. Der niederländische Wirtschaftswissenschaftler rechnet mit einem um ein Prozent höheren Wachstum in der EU durch den Bolkestein-Plan. Das brächte zwangsläufig neue Arbeitsplätze, so Lejour.

Während in der EU-Kommission die Lehre von dem alles regelnden Markt noch immer hoch gehalten wird, wächst in den anderen EU-Institutionen und den nationalen Regierungen die Skepsis. Die luxemburgische Regierung, die im Januar die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat, fürchtet gar, dass das Thema Dienstleistungsliberalisierung dem Projekt Europa einen erheblichen Imageschaden zufügen könnte. Gerade im Jahr der Referenden über die EU-Verfassung will man keine zusätzlichen Konflikte provozieren.

Auch die Regierungen von Dänemark, Belgien, Schweden und Frankreich haben erhebliche Bedenken angemeldet. Die Bundesregierung ist in der Frage zerstritten. Während Wirtschaftsminister Wolfgang Clement und Kanzler Gerhard Schröder hinter den Kommissionsplänen stehen, haben sich die Ministerinnen Renate Künast und Brigitte Zypries erstaunlich deutlich dagegen ausgesprochen.

Auch im Europa-Parlament dürfte der Vorsitzende der Kommission, José Manuel Barroso, derzeit Schwierigkeiten haben, eine Mehrheit für das umfassende Binnenmarktprojekt zu finden. Sozialdemokraten, Grüne, Linksdemokraten und Teile der Konservativen sind unzufrieden mit dem Papier oder lehnen seine Grundidee komplett ab. Die zuständige Parlamentsberichterstatterin, die deutsche Sozialdemokratin Evelyn Gebhardt, hat eine Entscheidung des Parlaments nicht vor Mitte 2005 angekündigt.

Gerade die EU-Parlamentarier wissen in diesem Fall sehr genau, worüber sie entscheiden. Seit der ersten Direktwahl des Parlamentes im Jahr 1979 kämpfen sie um ein einheitliches Statut inklusive gleicher Gehälter. Denn was das Herkunftslandprinzip konkret bedeutet, können sie jeden Monat an ihren Diäten ablesen. Gleicher Arbeitsort, gleicher Job – nur beim Gehalt entscheidet der Pass. So müssen sich die Letten im Europaparlament mit 800 Euro begnügen, während italienische Abgeordnete rund 11 000 Euro monatlich bekommen.