The Last Hooray

In Luxemburg und Belgien fanden die Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag der Ardennenoffensive statt. von thorsten fuchshuber und danièle weber

Dichter Nebel breitet sich über dem US-amerikanischen Soldatenfriedhof in Luxemburg aus. Es ist eiskalt. Auf dem betonierten Plateau am Eingang des Friedhofs, das auch die Gedenkstätte birgt, bereiten Angehörige der luxemburgischen und der amerikanischen Streitkräfte die Zeremonie zum 60. Jahrestag der Ardennenoffensive vor. Für viele derer, die den Vormarsch der Deutschen stoppen und die endgültige Befreiung Luxemburgs einzuleiten halfen, endete der Kampf auf diesem Gräberfeld. Endlos erstrecken sich die schneebedeckten weißen Steinkreuze und Davidsterne den Hügel hinab, bis man die Sicht darauf im Nebel verliert.

»Das sieht grauenvoll aus«, entfährt es Jerry Patrick. Wie viele der Veteranen der US-Streitkräfte, die heute hierher gekommen sind, sucht auch er nach den Stellen, an denen frühere Freunde von ihm begraben sind. Man kann an diesem Tag sehen, welche der Gedenksteine aufgesucht worden sind, denn die Schritte der Besucher haben Spuren auf der dünnen Schneedecke hinterlassen.

»Hier liegt mein bester Freund Emil Havlicek«, sagt Patrick, »er ging direkt vor mir, als er erschossen wurde.« Er führt uns zu dem Grab, das, wie er sagt, leicht zu finden ist, denn es ist nicht weit von dem des Generals George S. Patton entfernt. »Emil hatte ein Baby, doch er hat es nie kennen gelernt«, erzählt er mit zitternder Stimme. Immer wieder kehren in dieser Umgebung die Erinnerungen an die Tage im Dezember 1944 zurück. »Es ist heute unvorstellbar, was für ein Chaos das damals war. Man wusste kaum, wo die Deutschen sind und wo nicht.«

Fünf Mal hat sich Patrick seither von Leawood in Kansas auf den Weg nach Luxemburg gemacht. »Es ist schwer zu verstehen, was einen hierher zurückbringt«, sagt Patrick nachdenklich. »Vielleicht ist es die Schuld, die man fühlt, weil man noch am Leben ist und so viele andere hier liegen.«

Er wendet sich ab, läuft auf das Plateau zu und sucht seinen Platz für die Gedenkfeier, die in Kürze beginnt. Viele andere Veteranen sitzen bereits in dicke Fleecedecken gehüllt auf ihren Stühlen. Die ersten Politiker trudeln ein, Prominente schütteln einander die Hände.

Im Gleichschritt bewegen sich die amerikanischen und die luxemburgischen Ehrengarden über den Platz. Gedenkroutine, nicht nur bei den Militärs. Dann weicht bei einigen die Routine kurz dem Schrecken: Die luxemburgische Armee feuert Salutschüsse aus einer Feldhaubitze ab. Ein ohrenbetäubendes Knallen, das die Erde zum Beben bringt. Auf der Pressetribüne sind die Nachkriegsgenerationen versammelt, nicht wenige von ihnen hören den Lärm wahrscheinlich zum ersten Mal. Anders die Veteranen. Sie hatten, wie einer sagt, »genügend Gelegenheit, sich an diesen Klang zu gewöhnen«.

Auch die luxemburgischen Zivilisten kannten den Geschützlärm nur zu gut. »Wir hatten ein Gehör dafür, welche Granaten weiter fliegen und welche nahe bei uns einschlagen«, erinnert sich Maisy Muller-Weber. »Natürlich hatten wir die ganze Zeit Angst, aber was sollten wir denn machen?« Die damals 17jährige erlebte die letzten Tage vor Beginn der deutschen Offensive, die mit einem 24stündigen Beschuss der amerikanischen Stellungen eingeleitet wurde, auf einem Bauernhof bei Echternach, das im Osten Luxemburgs liegt. Ähnlich wie Diekirch, Ettelbruck und weitere Ortschaften wurde auch diese Stadt während der Kämpfe zu einem großen Teil zerstört.

In Echternach hatte das Schießen nach der Befreiung am 10. September 1944 nicht wirklich aufgehört. Denn bereits vor Beginn der »Operation«, die die Deutschen zynisch »Wacht am Rhein« nannten, hatten sie von jenseits der Grenze auf die alliierten Truppen gefeuert. Am 16. Dezember 1944 schließlich setzte sich das letzte Großaufgebot der Deutschen in Bewegung. Ziel des Angriffs war Antwerpen. Mit der Einnahme ihres Nachschubhafens sollte der Vormarsch der alliierten Truppen aufgehalten werden.

Über 200 000 Mann, bestehend aus der SS, der Wehrmacht und dem so genannten Volkssturm, wurden dafür zusammengezogen. Jeder, der zwischen 16 und 60 Jahre alt war, sollte seinen Beitrag leisten, um das Vordringen der Alliierten auf deutsches Reichsgebiet zu verhindern.

Zwischen Monschau und Echternach drangen diese letzten Reserven auf einer Breite von 170 Kilometern vor, der Keil des Angriffs kam jedoch bei Dinant zum Stehen. Der Frontverlauf stellte sich auf der Landkarte als Beule dar, daher rührt auch die Bezeichnung »battle of the bulge«.

Für die Luxemburger bedeutete das: Die Deutschen kamen zurück. Und mit ihnen die Angst. Mit den Amerikanern, den Befreiern, hatte man sich angefreundet. Maisy Muller-Weber erinnert sich an gemeinsame Kartenspiele mit den GI, die auf dem Hof ihrer Eltern einen Kommandoposten eingerichtet hatten. »Einer ging sogar immer im Flur auf und ab und hat den ›Erlkönig‹ auf Deutsch rezitiert«, sagt sie lachend. Die US-Soldaten seien »ganz anders als die Deutschen gewesen, denn sie haben gern gelacht und es gemocht, sich zu unterhalten«. Viele Luxemburger fürchteten, dass sich die Deutschen für die freundschaftliche Aufnahme der GI an der Zivilbevölkerung rächen würden.

Auch Robert F. Phillips erinnert sich gern an die Herzlichkeit, mit der er damals empfangen wurde: »Trotz allem, was man im Krieg durchzustehen hat, habe ich sehr warmherzige Gefühle für die Menschen hier, und ich genieße es jedes Mal, wenn ich hier bin.«

Hier in Clervaux, wo der heute 80jährige Militärhistoriker am Vorabend des 60. Jahrestages der Ardennenoffensive geehrt wurde, sitzt er mit Dutzenden weiterer Veteranen in einer schmucklosen Mehrzweckhalle, genießt das Buffet und lauscht den Klängen einer Bigband der US Army. Ganz in der Nähe wurde er damals von den angreifenden Deutschen überrascht.

»Am 17. Dezember ließen sie uns einen Angriff starten, um Marnach wieder einzunehmen. Die 2. Panzerdivision der Deutschen wiederum griff von Marnach aus an, um nach Clervaux vorzustoßen. Wir trafen uns in der Mitte. Die Deutschen waren zwei- oder dreimal so viele wie wir, und sie hatten Panzer. Wir kämpften den ganzen Tag und ließen uns langsam zurückfallen. Von den 300 Leuten unserer beiden Kompanien kamen nur 50 zurück.«

Der Mann mit dem kurz gestutzten grauen Vollbart und dem Veteranenbarett auf dem Kopf erzählt distanziert und engagiert zugleich. Er macht den Eindruck, als sei es ihm gelungen, die Erlebnisse zu verarbeiten. Als er seine Auszeichnungen zeigt, die er in einer schwarzen Plastikbox mit sich führt, liegt keine Spur von Pathos oder Stolz in seiner Stimme. »Könnte ja sein, dass ich sie tragen muss«, erklärt er trocken.

»Die Helden, die Sie im Fernsehen sehen können, gibt es nicht«, bekräftigt Earle R. Hart. Der ehemalige Infanterist hat die Reise der US-Veteranen von den Staaten aus koordiniert. »Wenn Sie mit Veteranen sprechen, dann werden Sie herausfinden, dass, egal was sie geleistet haben und welche Medaillen sie auch bekommen haben mögen, sie nur gemacht haben, was man ihnen gesagt hat und was von ihnen erwartet wurde.« Und er ergänzt: »Man sieht, wie jemand in Stücke gerissen wird, und weiß, mit was für einer Situation man es zu tun hat. Viele denken, es geht um Erfahrung und Mut, aber es ist Glück und die Gnade Gottes, so einfach ist das. Das ist der Grund, warum wir noch hier sind.«

Wie die meisten Zeitzeugen resümiert auch Hart das Erlebte: »Die Ereignisse damals waren das einschneidendste Erlebnis im Leben der meisten von uns. Auch in Bezug auf die Geschichte und auf das, was erreicht wurde. Ihr wärt heute nicht hier und könntet mit uns dieses wundervolle Fest nicht genießen, wenn wir damals nicht das Ruder herumgerissen hätten. Luxemburg war über vier Jahre unter dem Stiefel der Deutschen.«

5.30 Uhr am nächsten Morgen. Die Veteranen finden sich zur so genannten Night Vigil ein. Die Gedenkveranstaltung beginnt genau zu der Uhrzeit, zu der damals der deutsche Artilleriebeschuss einsetzte.

In allen Städten und Dörfern entlang des früheren Frontverlaufs finden solche Kranzniederlegungen statt. In Hoesdorf, während der Offensive ein strategisch wichtiger Ort, finden sich auch die luxemburgischen Prinzen Felix und Guillaume ein. Etwa 200 Menschen haben sich vor dem Gedenkstein versammelt, der auf einer Anhöhe am Wegrand steht. Hinter dem Mahnmal lodern zahlreiche Fackeln, links und rechts davon wird es von einer Ehrengarde flankiert. Es werden Reden gehalten, in der Ferne sind Salutschüsse zu hören.

Auch eine Gruppe so genannter Reenactors aus Großbritannien ist angetreten. Das sind Laiendarsteller, die Kriegsszenen nachspielen. Sie sind in US-Uniformen der vierziger Jahre gekleidet, ihre Jeeps haben sie am Straßenrand geparkt. Einer der Prinzen wechselt ein paar Worte mit den stramm stehenden Schauspielern, die ausnahmslos Zivilisten sind. Hoesdorf sei zum Zeitpunkt der Attacke »eine Art Niemandsland« gewesen, sagt Roland Gaul, der Präsident der Vereinigung der Museen der Ardennenschlacht (Amba). Bis auf die Amerikaner sei niemand hier gewesen, erläutert er. »Der Ort lag zu nahe an der Kampfzone. Deshalb haben die Amerikaner die Leute und ihr Vieh ins Hinterland evakuiert.«

Später in der Dorfkneipe werden Würstchen, Kaffee und Tee gereicht. Auch zwei ehemalige Wehrmachtssoldaten, die zum »Zeichen der Versöhnung« von Amba eingeladen wurden, sitzen da und unterhalten sich. Der 79jährige Albert Summerer aus Andernach bei Koblenz findet die US-Veteranen arrogant, weil die, die er getroffen habe, nicht einmal einen small talk hätten halten wollen. »Wo warst du damals, hätte man ja mal fragen können«, findet er. Summerer würde gern einfach von Frontsoldat zu Frontsoldat reden, denn für ihn scheint es keine Unterschiede zu geben: »Ich war im Getriebe des Krieges drinnen, ich konnte nicht raus. Ich war ja kein Zigeuner oder Mörder. Man kann sich ja mal die Hand geben, der Amerikaner ist ja auch nicht mit Seidenhandschuhen rumgezogen.«

Auch er fühlt sich heute in Luxemburg wohl. »Ich komme gern hierher, trotz der Tatsache, dass wir hier durchmarschiert sind und Häuser und Zeug kaputtgeschossen haben. Umgekehrt taten die anderen das auch. Ihr in Luxemburg wart der Mühlstein«, schwadroniert Summerer. Er hat sich 1943 freiwillig gemeldet, denn »wir sind ja auch dazu erzogen worden, einzutreten für Führer, Volk und Vaterland«.

Zwei Tage später findet in Bastogne ein Höhepunkt der Gedenkveranstaltungen statt. Am frühen Nachmittag gibt es eine Kranzniederlegung am amerikanischen Mahnmal Colline du Mardasson, wieder hat sich die Prominenz versammelt. Um Bastogne herum hat sich eines der blutigsten Gefechte der Ardennenschlacht abgespielt. Tagelang waren die alliierten Truppen dort von den Nazis umzingelt, die Stadt war am Ende nahezu völlig zerstört.

Mit einem Multimedia-Spektakel sollen die Ereignisse »wieder erlebt« werden. Entlang der Einkaufsstraße wurden riesige Lichtanlagen und Lautsprecher installiert. Rezitierte Tagebucheintragungen von Zivilisten, die in der belagerten Stadt verharren mussten, erzählen von den Geschehnissen und von der Stimmung, die damals herrschte. Lichtkegel beleuchten den Nachthimmel und jagen über Hauswände hinweg. Geschützlärm aus den Lautsprechern wechselt sich mit Opernchorälen ab.

Nun ist auch die große Stunde der Reenactors gekommen, die aus allen Teilen Europas angereist sind. Hunderte von ihnen bewegen sich in Originaluniformen der damaligen Truppenteile durch die Stadt. Über 480 Militärfahrzeuge und zwölf Panzer haben sie mitgebracht. Jeeps mit Maschinengewehren, Last- und Krankenwagen und ein Abschleppwagen mit einem Flugzeugwrack auf der Ladefläche bestimmen das Straßenbild.

Von den Fahrzeugliebhabern ist der 24jährige Jurastudent Christopher Lavie aus Bordeaux, der mit der Reenactment-Gruppe »D-Day-Drop« aus der Normandie angereist ist, allerdings wenig begeistert. Denn die Reenactors »wollen auch physisch den Soldaten von damals nahe kommen«, sagt er. »Wir wollen keine Dicken und Alten, die unserem Hobby einen schlechten Eindruck verleihen.« Tausende von Euro hat er in seine Originaluniform und in Ausrüstungsgegenstände investiert, auf Militariamessen hat er sie zusammengekauft. Allein für den M1-Karabiner, der an seiner Schulter hängt, hat er 500 Euro bezahlt.

Die Nacht zuvor hat Lavie, eingehüllt in seinen von Motten zerfressenen Mantel, in einem Schützengraben vor Bastogne verbracht. Genau in dem Waldstück, in dem damals auch die 101. Luftlandedivision der US-Streitkräfte ausharren musste, die jetzt von seiner Gruppe dargestellt wird. »Wir haben dort Schützenlöcher gefunden, die noch in gutem Zustand sind.« In der klirrenden Kälte habe er auf dem schneebedeckten Boden nicht schlafen können, sagt er. Doch er und seine Freunde wollten »den Bedingungen von damals so nahe wie möglich kommen«, erzählt er. »Es ist schrecklich, wenn man genau das fühlt, was einem die Veteranen kurze Zeit zuvor erzählt haben.«

Als Militaristen verstehen er und seine Freunde sich aber nicht. Keiner von ihnen war je bei der Armee. »Wir machen das nur aus historischem Interesse.«

Lavie wird die nächste Nacht wieder in einem foxhole verbringen. Die Veteranen liegen dann bereits in ihrem warmen Hotelbett. Schließlich ist es einer ihrer größten Wünsche, der aus dem Geschehen von damals erwuchs, dass keine Generation künftig Ähnliches erleben muss.

Für viele von ihnen wird es das letzte Mal gewesen sein, dass sie an diese Orte zurückkehrten. Halb scherzhaft und doch sehr ernst haben sie, die sich als »Enkel all derer« begreifen, die »nie einen Enkel hatten«, eine Redewendung für diesen 60. Jahrestag gefunden: »The last hooray.«