Arnie und die Emire

Die bewaffneten islamistischen Gruppen in Algerien sind weitgehend zerschlagen. Auch die legal agierenden Islamisten geraten in die Defensive. von bernhard schmid, paris

Das neue Jahr begann mit einer Nachricht, die wohl die allermeisten Algerier und Algerierinnen aufatmen lässt: Die Groupes Islamiques Armés (GIA, Bewaffnete Islamische Gruppen), deren bloße Erwähnung die Bevölkerung vor allem im Umland der Hauptstadt Algier jahrelang in Angst und Schrecken versetzte, sind so gut wie zerschlagen. Damit ist das wohl blutigste Kapitel der jüngeren algerischen Geschichte quasi abgeschlossen.

Am 3. Januar verkündete ein nüchternes Kommuniqué des algerischen Innenministeriums die Bilanz einer Operation, die bis dahin unter Geheimhaltung abgelaufen war. Anfang November war es erstmals gelungen, einen »nationalen Emir« (Befehlshaber) der GIA lebend zu fassen. Boudiaf Nouereddine fiel den Sicherheitskräften in Bab Ezzouar am Rand Algiers in die Hände. Auch einige Unterstützerzellen von »Schläfern« in der Hauptstadt konnten ausgehoben werden. Der neue »Emir« Chaâbane Younès, genannt »Lyès«, der seit kaum vierzehn Tagen an der Spitze der GIA stand, wurde am 1. Dezember in der Nähe der westalgerischen Stadt Chlef erschossen.

In der Vergangenheit war es den bewaffneten Kräften des Staates kaum möglich gewesen, Spitzenleute der GIA lebend oder auch nur tot in ihre Hände zu bekommen: Die Ideologie der extrem gewalttätigen, sektenähnlichen Gruppierung sah vor, dass ein Kampf nur siegreich oder mit dem Tod enden könne. Und die GIA-Kämpfer sammelten die Leichen ein oder verbrannten ihre Finger, damit keine Identifizierung durch die Abdrücke mehr möglich war.

Der allgemeine Niedergang der bewaffneten Gruppen, die keinerlei Siegeschancen mehr gegen die verhassten »gottlosen Kräfte« haben, hat anscheinend dazu geführt, dass nunmehr selbst ein »Emir« zum Aufgeben bereit war. Andererseits spielt auch die Aussicht auf eine Generalamnestie für alle ehemaligen bewaffneten Islamisten, die Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika erstmals am 1. November vorigen Jahres auf die Tagesordnung setzte, eine Rolle. Sie soll das Kapitel des Bürgerkriegs rasch beenden helfen.

Um einen Wahlsieg des Fis (Islamische Rettungsfront) zu verhindern, verbot die Regierung Anfang der neunziger Jahre die islamistische Partei. Im Untergrund entstanden damals mehrere autonom operierende, bewaffnete Gruppen. Bei deren jungen Kämpfern spielte auch eine verzerrte historische Wahrnehmung des Befreiungskriegs gegen den französischen Kolonialismus eine Rolle. Der politische Konflikt wurde nachträglich von dem konservativen Flügel des algerischen Establishments als religiöser Kampf dargestellt. Und die Eliten rechtfertigten ihren durch Korruption und Schattenwirtschaft angehäuften Reichtum damit, dass sie angeblich eine wichtige Rolle im Befreiungskrieg gespielt hätten.

Das prägte die Fantasie der männlichen Heranwachsenden. Durch einen vermeintlichen Glaubenskrieg schnell Reichtum und Reputation zu erlangen, war die prägende Vorstellung der jungen Kämpfer. Viele von ihnen hatten noch zwei Jahre davor eher von Arnold Schwarzenegger oder Sylvester Stallone als von Mohammed geträumt, wie der französisch-algerische Forscher Luis Martinez beobachtete. Deshalb praktizierten die bewaffneten Islamisten in Algerien auch so gut wie nie Selbstmordattentate: Ihre Bewegungen kamen in der Hoffnung auf einen rasch herannahenden Sieg auf, kurz nach den Wahlerfolgen des Fis.

Die reaktionäre Utopie ist gescheitert. Die Niederlage des militanten Islamismus ist nicht in erster Linie auf die militärischen Erfolge der Armee zurückzuführen. Entscheidend war, dass die soziale Basis des radikalen Islamismus spätestens mit dem Aufkommen des GIA-Terrors zerfallen ist. Zuvor hatte sich bereits gezeigt, dass die große Mehrzahl der Algerier nicht gemäß der Regeln aus dem 7. Jahrhundert leben mochte, die die radikalen Islamisten ihnen aufzwingen wollten. Sie entzogen den bewaffneten Islamisten in fortschreitendem Maße ihre Unterstützung. Die GIA rächten sich ab 1997 durch Kollektivmassaker, was zu einer noch stärkeren Isolierung führte.

Allmählich beginnt auch der politische Diskurs sich darauf einzustellen, dass die gesellschaftlichen Realitäten sich verändert haben. Seit dem Aufkommen des Islamismus in den achtziger Jahren hatte die Staatsmacht eine Doppelstrategie verfolgt. Sie übernahm viel von dem Anspruch der reaktionären Opposition, die Gesellschaft zur »islamischen Moral« zurückzuführen, wollte aber gleichzeitig ihr Machtmonopol wahren.

Noch in diesem Monat aber soll das Kabinett, kurz darauf das algerische Parlament über eine Reform des 1984 »islamisierten« Frauen- und Familiengesetzes entscheiden. Die Frau wird dann nicht mehr den legalen Status einer Minderjährigen unter der Obhut ihres Vaters oder Ehemanns haben. Ehefrau und Ehemann sollen zukünftig im Scheidungsrecht einander gleichgestellt werden.

Das Familienrecht enthält weiterhin patriarchale Elemente, dennoch ist die Reform ein spürbarer Fortschritt. Algerische Frauenvereinigungen hatten immer wieder gegen die reaktionären Gesetze protestiert. Die Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung der Frauen gilt jedoch auch als erforderlich für die kapitalistische Modernisierung. Der Sektor der modernen Lohnarbeit soll ausgeweitet werden. Die EU und die Weltbank drängen deshalb renitente Regierungen wie die Algeriens zu Reformen.

Früher hätte eine solche Kombination aus innerem und äußerem Druck den Islamisten eine Steilvorlage geliefert, um die emanzipationswilligen Frauen als »fünfte Kolonne der kolonialistischen kulturellen Aggression« anzuprangern. Heute dagegen sind die Islamisten, die freilich gegen das Reformvorhaben wettern, eher in der Defensive.

Auch die Haltung der Justiz zur patriarchalen Gewalt scheint sich zu ändern. Anfang Januar wurden im zentralalgerischen Biskra relativ harte Urteile im Berufungsprozess wegen schwerer Gewalttaten gegen Frauen gefällt. Im Juli 2001 hatte ein Lynchmob in einem Viertel der Ölarbeiterstadt Hassi Messaoud, wo die Elendsprostitution grassiert, eine Gruppe alleinstehender Frauen überfallen und zum Teil schwer verletzt, vergewaltigt und gefoltert (Jungle World, 32/01).

20 der Angeklagten wurden zur Höchststrafe von 20 Jahren verurteilt. Anders als im erstinstanzlichen Prozess vom Juni 2002, in dem die milden Strafen nur mit Unruhestiftung und Diebstahl begründet wurden, wird dieses Mal auch die sexuelle Gewalt in der Urteilsbegründung genannt. In seiner Klarheit ist das Urteil eine Premiere in der algerischen Justizgeschichte.