Eurovision der Prekären

In Berlin fand am Wochenende das »Treffen des internationalen Prekariats« statt. von nils brock

Das war der längste Englischkurs meines Lebens.« Marc Monaco, Mitglied der belgischen Medieninitiative »blablaxpress«, ist nach über acht Stunden Debatten rund um das Thema Prekarisierung sichtlich gezeichnet. »Ich habe manchmal nicht alles verstanden. Aber es hat sich gelohnt, zu kommen und zu sehen, was für Aktionen in anderen Ländern laufen und wo die Gemeinsamkeiten liegen.«

Solche unverbindlich optimistischen Einschätzungen hörte man von vielen der über 100 Teilnehmenden, die am vergangenen Wochenende aus mehreren Ländern Europas nach Berlin reisten, um auf dem »Treffen des Internationalen Prekariats« Erfahrungen auszutauschen und Aktionen zu planen. »Da sind sich, glaube ich, alle einig«, meint Isabelle von Act Up Paris, »aber man muss trotzdem sagen, dass immer noch viel Verwirrung darüber herrscht, was Prekarisierung überhaupt bedeuten soll.«

Prekarisierung lässt sich allgemein als Tendenz der sich verschlechternden Lebens- und Arbeitsbedingungen in den vergangenen Jahrzehnten beschreiben. Die Symptome sind vielfältig. Arbeitsverhältnisse werden unsicherer, Sozialleistungen werden gekürzt, steigende Mietpreise verändern die Sozialstruktur ganzer Stadtteile, die Repression von Migranten nimmt zu.

Als prekarisiert kann man deshalb nicht ausschließlich eine bestimmte soziale Schicht beschreiben, vielmehr sind Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenslagen betroffen. »Es gibt eben verschiedene, sehr ambivalente Aspekte von Prekarität«, stellt Heike von der Berliner Gruppe Fels (Für eine linke Strömung) zu Beginn des Treffens fest. »Vielleicht könnte man auch diskutieren, inwiefern eine Unterscheidung von proletarischen und kulturellen Prekarisierten sinnvoll und möglich ist.«

Die Berichte der über 30 verschiedenen Gruppen und Organisationen zeigten jedoch, dass eine solche Differenzierung zwischen existenzieller Not und »Luxusprekarität« in den konkreten sozialen Auseinandersetzungen oft verwischt oder bewusst aufgegeben wird. Die Kulturprekären aus Frankreich etwa weisen darauf hin, dass sie während der Proteste im Jahr 2003 ihre relativ privilegierte Arbeitslosenversicherung nicht als eine Ausnahmeregelung schützen wollten. »Uns ging es darum zu zeigen, dass nicht-permanente Beschäftigungsverhältnisse zur Regel werden und man deshalb für eine neue Art sozialer Absicherung kämpfen muss«, sagt Virginie von den Intermittents du spectacle. »Deshalb haben wir uns von Beginn an auch mit den Arbeitsloseninitiativen wie AC (Agir contre le chômage) und den Flüchtlingskollektiven der Sans Papiers koordiniert. Das Konzept von Prekarität muss doch bedeuten, eine gemeinsame Basis für alle zu finden.«

Während die französischen Organisationen, die sich mit Prekarität beschäftigen, ihre Proteste und Aktionen bereits ins dritte Jahr tragen, werden andernorts gerade erste praktische Erfahrungen gemacht. In Finnland trat das Kollektiv Prekariaatti mit der Unterstützung eines wilden Busfahrerstreiks im vergangen Jahr erstmals öffentlich in Erscheinung. »Obwohl wir die Gewerkschaften gegen uns hatten und das Arbeitsgericht den Streik für illegal erklärte, haben wir am Ende doch Erfolg gehabt«, sagt Miika. »Noch wichtiger war es jedoch, während der Streiks und Besetzungen immer wieder darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Zeitverträgen, die den Busfahrern aufgezwungen werden sollten, nicht um ein isoliertes Problem, sondern um eine Tendenz handelt, die die gesamte Gesellschaft betrifft.« In Berlin wollten die Vertreter von Prekariaatti vor allem herausfinden, wie andere Gruppen die theoretischen Überlegungen zur Prekarität mit Flüchtlingsinitiativen diskutieren.

Das Thema Migration war neben den Vorbereitungen eines europäischen Mayday 2005 der zweite Schwerpunkt, über den auf dem Treffen debattiert wurde. Am 2. April wollen verschiedene Gruppen einen Zweiten Europäischen Aktionstag zum Thema Einwanderung und Flucht organisieren. Besprochen wurde vor allem, wie man möglichst viele selbst organisierte Migranteninitiativen einbinden könne, die auf dem Prekarisiertentreffen nicht vertreten waren. Die Sans Papiers mussten absagen, weil sie zur gleichen Zeit in Paris die Zentrale der Sozialistischen Partei (PS) besetzten und deshalb lediglich eine Grußadresse schicken konnten.

»Ich glaube, ihre Abwesenheit könnte auch damit zu tun haben, dass die verschiedenen migrantischen Organisationen gerade dabei sind, sich neu zu vernetzen«, meint Barbara von der slowenischen Migrantenorganisation Dostje. »Auch bei uns ist die Kategorie ›prekär‹ relativ neu.« Sie habe aber geholfen, die Lage der Migranten, die Slowenien als Transitland nutzen, und die Situation der ungefähr 80 000 Menschen, die bei der Staatsgründung im Jahr 1991 keine Papiere erhalten haben, zusammen zu betrachten. Am Ende einigte sich die Arbeitsgruppe Migration darauf, ein gemeinsames Plakat zu entwerfen und die lokalen Initiativen künftig über eine Mailingliste besser zu koordinieren.

Dass man neben solchen allgemeinen Beschlüssen nicht zu genaueren inhaltlichen Fragen vorgedrungen sei, sei zwar schade, aber an dieser Stelle der Diskussion auch unvermeidlich, meint Isabelle von Act Up. »Zunächst muss man den Migranten ja auch ermöglichen, in diesem Prozess stärker als Subjekte mitzuwirken. Nur so kann man eine Identität schaffen, die es den Migranten erlaubt, sich im Konzept der Prekarisierung auch wiederzufinden.«

In den Berichten der anwesenden Organisationen wie Disobbedienti Milano, der autonomen Gruppen aus Schweden oder des Amsterdamer Prekären Netzwerks ließen sich dennoch gemeinsame Ansichten und Forderungen finden, die sicherlich auch für Migranten Anhaltspunkte bieten. So forderte die Gruppe Paris Résistance dazu auf, verstärkt nach Protestformen zu suchen, die die lokalen Kämpfe sichtbarer machen und einer Marginalisierung und einem Verharren in der subkulturellen Nische entgehen.

Außerdem schien man sich darin einig zu sein, dass die tradionellen Gewerkschaften zu Tendenzen der Prekarisierung, zu den sich verändernden Arbeitsverhältnissen und der hohen Jugendarbeitslosigkeit bisher nichts Wesentliches beizutragen hatten.

Ungeklärt bleibt jedoch die Frage, wie sich ein gemeinsames prekäres Subjekt bestimmen lässt. Neben migrantischer und proletarischer ist auch die geschlechtsspezifische Prekarisierung ein Gegenstand der Debatten. Der Textbeitrag der Gruppe Precarias de Derivas und die darin gestellte Frage, inwiefern Frauen als Haus- oder Sexarbeiterinnen nicht schon immer unsichtbar prekarisiert gewesen seien, bietet genug Anlass für weitere inhaltliche Auseinandersetzungen. Ein Vertreter der Disobbedienti hatte schon zu Beginn der Konferenz ein Fazit zur Zusammenarbeit der einzelnen Gruppen eingestreut, dass auch nach dem Treffen in Berlin noch gilt: »Wie haben hier ein Ding ins Rollen gebracht. Wir wissen nur noch nicht genau, wohin.«