Hartz IV wie weggespült

Wer für die Opfer in Südostasien spenden kann, kann auch ansonsten den Gürtel enger schnallen: Die Regierung weiß die Katastrophe für sich zu nutzen. von felix klopotek

Es muss erst alles schlimmer werden, bevor sich etwas ändert. Ein häufig gehörter Spruch, manche schreiben ihn vor allem frustrierten Linken zu. Nach dem Seebeben vom 26. Dezember war er aber im medialen und politischen Mainstream zu vernehmen – in unterschiedlichen Varianten: Erst musste die Katastrophe passieren, ehe die Bürgerkriegsparteien in Aceh oder Sri Lanka sich der Nichtigkeit ihres Handelns bewusst wurden; erst musste die Katastrophe passieren, ehe die deutsche Bevölkerung aufwachen und selbstlose Hilfe leisten konnte; erst musste die Katastrophe passieren, ehe die Welt verstand, was Globalisierung, im Guten wie im Schlechten, wirklich bedeutet. »Mit etwas Glück könnte aus den Fluten noch etwas Gutes erwachsen: ein neues Bewusstsein von globaler Verantwortung«, hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. »Die Welt rückt enger zusammen«, tröstete die Headline der Zeit.

Es muss erst alles schlimmer werden, bevor sich etwas ändert. Dieser Spruch drückt bereits das Programm der Instrumentalisierung und Ideologisierung aus. Schon an sich, weil er unterstellt, dass vernunftbegabte Wesen nach einem schlichten Reiz-Reaktions-Schema funktionieren. Das schlichte »es wird immer schlimmer« war noch nie ein hinreichender Grund dafür, dass Menschen über die gründliche Änderung ihrer Lage nachdenken. Stellt man den Spruch in einen politischen Zusammenhang, wird er vollends ideologisch. Er wird zur kruden Sinnstiftung, indem sich das Archaische Bahn bricht. Als ob es einer Naturkatastrophe bedürfte, damit Bürgerkriegsparteien innehalten!

Der hiesige politische Umgang mit der Flutkatastrophe und seine mediale Inszenierung sind perfide. Perfide deshalb, weil die politisch-mediale Mobilisierung auf etwas fußt und mit etwas verschmilzt, das nicht Gegenstand der Kritik sein kann: Das Erschrecken und das Mitleid derjenigen, die die Horrorbilder im Fernsehen sahen, sind nicht zu bezweifeln, die Trauer über verschwundene und verunglückte Verwandte und Freunde ist nicht hintergehbar. In dem Moment aber, in dem diese Emotionen in den herrschenden medialen Diskurs übersetzt werden und sich zu politischer Handlung verdichten, affirmieren sie politische Herrschaft.

Das fängt bei der Wahrnehmung der Katastrophe an. Einerseits ist sie der ultimative Schock. Die Katastrophe tritt unvorbereitet und gnadenlos ein, der Mensch ist machtlos. Andererseits werden die technologischen Meisterleistungen der Menschheit beschworen: Ein Frühwarnsystem, dessen Installation kein technisches Problem gewesen wäre, hätte die Anzahl der Opfer drastisch verringert. Auch in der Katastrophe siegen die zivilisatorischen Errungenschaften. Die Logistik der Hilfseinsätze und die Wirksamkeit der Medikamente sind zumindest annähernd ausreichend, dass keine Epidemien ausbrechen.

Die Verschränkung von Machtlosigkeit mit dem Meistern der Situation ergibt ein sehr konservatives Bild. Henning Ritter hat es in einem Kommentar für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung exemplarisch beschrieben: »Hier zeichnet sich die Normalität der globalisierten Welt ab, die für die Zukunft ins Auge zu fassen ist. Diese Zukunft ist nicht mehr in Bildern einer befreiten Menschheit zu fassen. Passender wäre das Bild von nicht enden wollenden Deichsicherungen gegen die andrängenden natürlichen und technischen Großgefahren.« Die Planbarkeit des sozialen Daseins ist der Eingrenzbarkeit gewichen. Die Frage, warum die Globalisierung überhaupt lohnt, wenn sie »Deichsicherungen« zwingend notwendig macht, gilt als irrelevant.

Auf den einzelnen Bundesbürger heruntergerechnet heißt das, dass Mitleid als persönliche, individuelle Regung zur Sinnstiftung transformiert wird, die hilft, sich mit dem Unausweichlichen zu arrangieren. Mitleid wird zu einem kleinen ideologischen Staatsapparat direkt im eigenen Kopf.

Innenpolitisch geht es zunächst um das Krisenmanagement der Bundesregierung. Gegenüber der Opposition ist sie im Vorteil, denn sie kann handeln, die Opposition nur auf das Handeln reagieren. Schröder, Fischer und Eichel agieren – im vollen Wortsinn – souverän, während Stoiber und Merkel durch Herumkrittelei auffallen. Hartz IV ist gut über die Bühne gegangen, die Einführung der Maut war reibungslos. Die Regierung hat ihre Hausaufgaben gemacht, jetzt kann sie mit voller Konzentration die Hilfs- und Rettungsaktionen in Angriff nehmen. Zwar haben das Management von Hartz IV und der Umgang mit dem Seebeben nichts miteinander zu tun, aber auf der makro-emotionalen Ebene passen sie gut zusammen.

Die Handlungsfähigkeit der Regierung trifft sich mit der spontanen Initiative der Massen. Die zahlreichen schnellen Spenden sind freiwillige Opfer, und die Spendenkampagne, die schnell greift, schlachtet dies weidlich aus. Mitten in dieser harten Zeit – Stichwort: Hartz IV – sind Menschen bereit zu geben, was sie nicht geben müssten, und sich dazu von Kai Pflaume oder Johannes B. Kerner animieren zu lassen. So wird die Spende zum politischen Symbol der Demut und des Konformismus, zu einer gleichsam verschobenen Anerkennung, dass wir alle den Gürtel enger schnallen müssen.

Vor etwa einem Jahr gab es die Bombendebatte: Waren die Deutschen Opfer der alliierten Bomberangriffe? Ihr ideologischer Effekt war klar: Zu den sozialen Opfern, die der Bevölkerung aufgenötigt werden, gesellt sich als Kompensation der Status als Opfernation. Dieser Effekt stellt sich ähnlich in der Spendenkampagne ein. Den realen Einschnitten, die einem die Politik aufzwingt, stehen die symbolischen, eben die Spendenbeträge, entgegen. Der ungezwungene Einschnitt hilft, den erzwungenen besser zu ertragen. Er soll der Bevölkerung bewusst machen, dass es Leute gibt, die noch viel mehr verloren haben.

Spätestens in der zweiten Januarwoche hat aber auch das Rollback eingesetzt. Die Regierung wird kritisch beäugt, weil sie auf Nachfragen, wie die Gelder eingesetzt werden, unwirsch reagiert hat. Die »Ärzte ohne Grenzen« haben zu einem Spendenstopp aufgerufen. »Zu viel des Guten?« wird gefragt. Was einsetzt, ist eine De-Emotionalisierung. Die aufgewühlten Massen sollen ernüchtert werden – und wollen es auch. Zu viele Emotionen – Politik und Medien wissen das sehr wohl – haben etwas Unkontrollierbares, Unberechenbares. Man tut den Einpeitschern aus den Fernsehshows, Kerner, Pflaume e tutti quanti, die jetzt wegen ihres Spendenhypes kritisiert werden, unrecht. Sie sind billiger Fusel fürs Volk. Klebrig und süß – erst putschen sie so richtig auf, dann folgt der große Kater.