Jesus fliegt raus

León Ferrari provoziert die katholische Kirche. jessica zeller sprach mit dem argentinischen Künstler

Mittlerweile ist die Warnung offiziell: »Diese Ausstellung beinhaltet Arbeiten, die die religiösen, moralischen und weltanschaulichen Gefühle des Besuchers verletzen können«, lautet die Aufschrift, die in jeder Ankündigung der Retrospektive des Künstlers León Ferrari und auf Flugblättern, die am Eingang des Kulturzentrums Recoleta in Buenos Aires ausliegen, zu lesen ist. Minderjährige Besucher dürfen die Ausstellung gar nur in Begleitung eines Erwachsenen besuchen. Die Auflagen im Revisionsverfahren im Fall Ferrari haben einen bitteren Beigeschmack.

Kurz vor Weihnachten war es der rechts-katholischen Gruppierung Cristo Sacerdote unter Federführung des Kardinals Jorge Bergoglio gelungen, ein Verbot der Ausstellung zu erwirken. Die Begründung der Richterin Elena Amanda Libertatori: Die Ausstellung verletze die religiösen Gefühle der großen Mehrheit der Bewohner von Buenos Aires. Nun sind die Türen der Ausstellung zwar seit knapp zwei Wochen wieder geöffnet, allerdings nur unter dem Hinweis, dass das Betreten mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden ist.

Der Künstler als Gotteslästerer und Gefahrenpotenzial für die moralische Sicherheit? Diese Rolle ist für den mittlerweile 84jährigen León Ferrari nicht neu. Seit Beginn seiner künstlerischen Laufbahn setzt er sich mit Religion im Allgemeinen und mit den Höllenphantasien der katholischen Kirche im Besonderen auseinander. »Die Idee, über die Religion zu arbeiten, kam schon in der Schule auf. Ich ging in eine streng katholische Einrichtung. Dort wurde mir beigebracht, was die Religion angeblich ist und was die schicksalhafte Macht der Hölle auszeichnet, nämlich die Bestrafung des Andersdenkenden«, meint Ferrari heute über seine damalige Motivation. Seit nunmehr fast 40 Jahren sind seine Arbeiten Zielscheibe von Hasstiraden und Verboten von Seiten politischer und religiöser Dogmatiker. Pikanterweise ist der eigentliche Stein des Anstoßes und die Begründung der Zensur heute wie damals dieselbe geblieben: eine Skulptur mit dem Titel »Die westliche und die christliche Zivilisation«, die eine Christusfigur auf einem Phantomjäger zeigt und die Ferrari zur Zeit der Proteste gegen den Vietnamkrieg schuf.

Ferrari über die Entstehungsgeschichte der Arbeit: »Hintergrund war, dass mich das damals ziemlich berühmte und angesehene Kulturinstitut Di Tella im Jahr 1965 mit anderen Künstlern zusammen eingeladen hat, eine Ausstellung zu machen. Ich hatte dafür eigentlich schon eine Skulptur aus Drahtgeflecht angefertigt. Aber dann kam der Vietnamkrieg, und ich entschloss mich, diese andere Skulptur zu machen. Aber ›Die westliche und die christliche Zivilisation‹ hing nur bis zum Tag vor dem Ausstellungsbeginn im Museum. Kurz vor der Eröffnung entfernte der damalige Kurator die Skulptur mit dem Argument, dass sie die religiösen Gefühle der Katholiken verletze, und sie wurde nicht gezeigt.«

Wie viele andere avantgardistische Künstler Argentiniens bricht Ferrari zu diesem Zeitpunkt mit seinen einstigen Protegés im Institut Di Tella und sucht nach eigenen Wegen, um politische Kunst zu machen. 1966 nimmt er teil an einer Ausstellung zum Gedenken an Vietnam, im nächsten Jahr widmet er sich dem Leben des gebürtigen Argentiniers Ernesto »Ché« Guevara. Schließlich schließt sich Ferrari der Gruppe Tucumán Arde an, dem wohl bekanntesten politisch-künstlerischen Zusammenschluss in Argentinien dieser Zeit. Im gleichnamigen Ausstellungsprojekt, das 1968 in den Städten Rosario und Buenos Aires stattfindet, kritisieren Künstler, Soziologen und politische Aktivisten gemeinsam anhand von Fotos und Interviewmaterial die Ursachen der Verarmung und des Hungers in der Provinz Tucumán im Norden Argentiniens.

Tucumán Arde gilt bis heute als ein »point of no return« in der Geschichte der politischen und künstlerischen Avantgarde Argentiniens. Gleichzeitig ist die Ausstellung, die bereits kurz nach ihrer Eröffnung verboten wird, einer der Ausgangspunkte für die gewaltsame Niederschlagung der Proteste von Studentenbewegung und Gewerkschaften. Viele Teilnehmer werden verfolgt, einige umgebracht.

Ferrari flieht Mitte der siebziger Jahre nach Brasilien ins Exil und kehrt erst Jahre später nach der »Redemokratisierung« wieder nach Argentinien zurück. Obwohl er sich seit den siebziger Jahren zunehmend auch mit abstrakter Kunst befasst und insbesondere durch seine poetischen Texte von sich reden macht, lässt er nie ab von der Kritik an der katholischen Kirche, ist sie doch einer der zentralen Kollaborateure des brutalen argentinischen Militärregimes.

Ferrari über sein Verständnis von Kunst: »Politische Kunst ist eigentlich nicht der passende Begriff. Es ist eine Kunst, die die Macht kritisiert, eine Kunst, die die Verletzung der Menschenrechte anprangert. Ich mache neben der abstrakten Kunst, die mir auch sehr wichtig ist, immer Arbeiten, die explizit die Intoleranz und Gewaltverherrlichung im Christentum kritisieren. Die Diskriminierung von Homosexuellen, die Unterdrückung der Frau, den Antisemitismus, die Rolle der Kirche während der argentinischen Militärdiktatur, all das versuche ich in diesen Arbeiten zu verarbeiten und zu kritisieren.«

Eine Form, die Ferrari seit Jahren dafür benutzt, ist die Verfremdung klassischer kirchlicher Werke. In einer Ausstellung von 1986 in São Paulo hängt er über eine Kopie des Bildnisses Michelangelos vom Jüngsten Gericht einen Käfig mit Tauben, dessen Boden eine Öffnung in Kreuzform hat. Mit der Zeit breitet sich der Kot der Vögel als christliches Kreuz über dem Bildnis aus. Eine Idee, die Ferrari in vielen Ausstellungen im Ausland weiterführt und die er so begründet: »Ich will damit eine Kritik an der abendländischen Kultur und Religion zum Ausdruck bringen und an dieser Idee der Bestrafung des Andersdenkenden in der Hölle. Die Bilder über die Apokalypse, die Sintflut, das Jüngste Gericht sind die künstlerische Manifestation dieses Gedankens. Michelangelo, Botticelli oder Dante haben deshalb nicht nur Werke mit hohem künstlerischem Wert geschaffen, ihre Bilder sind gleichzeitig extrem gewaltverherrlichend. Weil die Leute das nicht sehen, versuche ich, es sichtbar zu machen.«

Im streng katholischen Argentinien scheinen Ferraris Arbeiten, die bereits auf mehreren internationalen Biennalen gezeigt wurden, nur schwer erträglich zu sein, und die erste ausführliche Retrospektive bietet Anlass für juristische Prozesse. Dass inzwischen auch seine Sponsoren ihre finanzielle Unterstützung der Ausstellung zurückgezogen haben, scheint Ferrari jedoch keineswegs zu entmutigen: »Welche Wirkung meine Arbeiten tatsächlich haben, weiß ich nicht, aber die gegenwärtige Diskussion um meine Ausstellung und die extreme Ablehnung der Kirche hat Themen auf die Tagesordnung gebracht, über die vorher in Argentinien nicht gesprochen wurde.«