Laues Lüftchen vom Lago

Im Frankfurter Allgemeinen Hochschulanzeiger ist die weite Welt des modernen Leistungsspießers zuhause. von arnd zschiesche und oliver carlo errichiello

Wenn Alexandra Gruber im Flieger unterwegs ist, hat sie in der Regel wenig Zeit, die Aussicht zu genießen.« Mit solchen Sätzen und einer hohen Auflage von 230 000 Exemplaren verbreitet der alle zwei Monate in Frankfurt am Main erscheinende Frankfurter Allgemeine Hochschulanzeiger seit Dezember 1988 (damals noch als Uni-FAZ) pittoreske Thesen zum Sein und Werden »für den Fach- und Führungskräftenachwuchs«.

Zwischen den Zeilen des Magazins ist die ganze Welt ein Hort pyknischer Leistungsträger, die hoch erfreut 12,5 Stunden pro Tag arbeiten, wöchentlich einen Triathlon mitnehmen und monatlich mittels Hypnosetechnik zwei neue Fremdsprachen erlernen. Eine beeindruckende Verschmelzung von protestantischer Ethik mit dynamischer Werbung à la Nescafé (»Ich bin so frei«). Kein Wunder, denn die Menschheit – das ist bekannt – befindet sich in einer Epoche, in der Mütter mit exklusiven Hochschulabschlüssen auf den Spielplätzen altbaulastiger Stadtviertel Sätze wie »Ich habe gar nicht realisiert, wie selbstbewusst Baptiste in den vergangenen Monaten geworden ist« von sich geben, um danach den sportlich anmutenden Buggy samt konfidentem Inhalt in den nächsten Coffeeshop mit weiß gebeizten Landhausmöbeln zu schieben.

Die Hauptzielgruppe des Hochschulanzeigers findet sich wenige Jahre nach der Lektüre in genau diesen erfolgsverwöhnten, urbanen Bezirken wieder. Das in Pforzheim gedruckte Blatt nennt sich »Projekt«, verrät uns das Impressum. Was genau ist das Projekt?

Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis, welches ausschließlich mit modischem »underscore« arbeitet, gibt erste Hinweise: strategische_hochschulabschlüsse, bilden_private hochschulen, unterwegs_stuttgart, intensiv_wirtschaftsprüfer, hautnah_berufseinstieg, auftanken_selbstheilung – so lauten die thematischen Wegweiser hinein in die gesellschaftliche Anerkennung. Dahinter verbergen sich ambitionierte Erfahrungsberichte von Redakteuren, die Freia, Hilmar, Stefan oder Zuni mit Vornamen heißen. Es geht um Recruiting-Events, Traineeprogramme, Kaizen oder naturromantische Verklärungen von Powerpointpräsentation: »Vom Lago weht ein laues Lüftchen. Der Beamer wirft Grafiken an die Wand, die wie Wetterkarten aussehen. Blaue und rote amorphe Formen verdeutlichen, ob ein Brand von seinen potenziellen Käufern stärker nach rationalen oder emotionalen Kriterien bewertet wird.«

Gerne wird auch über die aufreibende Wohnungssuche in Wirtschaftsregionen berichtet. Nadja Hirschberg erzählt stolz von ihrer 59-qm-Wohnung in Stuttgart-Degerloch für 440 Euro (kalt): »In zwei Minuten bin ich im Wald.« Frau Hirschberg ist Wirtschaftsprüferin. Die Texte im Anzeiger sind gewichtig. Sie dienen der eigenverantwortlichen Persönlichkeitsfindung im Dienste des lückenlosen cv (sprich »Ziwi«) und verstrahlen auf ungefähr 100 großflächigen Seiten eine Zwangsläufigkeit, die ansonsten ausschließlich Podiumsvorträge von Helmut Schmidt über das Verhältnis Europa-China erreichen.

Jens Plinke, der bei dem Kölner Recruiting-Dienstleister Access für den Bereich »Candidates Attraction & Care« verantwortlich ist und mit 32 Jahren so zielstrebig aussieht wie Kurt Beck ohne Bartwuchs, erklärt, was zu tun ist, um den Personalchef im Vorstellungsgespräch bei Laune zu halten: »Nicht jede Schwäche ist für ein Vorstellungsgespräch das richtige Thema.« So viel zum Thema Selbstfindung. Birgit Adam, Autorin des Ratgebers »Der clevere Praktikumsführer« empfiehlt, »während des Semesters einfach ab und zu im Unternehmen nachzufragen, was es Neues gibt« oder »einfach einmal eine SMS zum Geburtstag« zu schicken. Fragen Sie auf keinen Fall einfach mal bei sich nach, ob Sie selbst irgendeine Form von Restwürde besitzen, oder ob Frau Adam Menschen verachtet.

Wer diese Zeitung liest, glaubt an Robert Hetkämper, Lebensversicherungen und den Consultant Volker Fitzner vom Beratungsunternehmen PricewaterhouseCoopers, wenn er erzählt: »Der Wettbewerbsdruck hat zu einem intensiveren Portfolio-Management geführt.« Randprodukten gibt Fitzner keine Chance. Weitere leitmotivische Sätze des Magazins mit dem in Großbuchstaben gesetzten Untertitel »Karriere Studieren« lauten: »Wenn der Kunde Sie ›basht‹, dürfen Sie nicht ›zurückbashen‹ – er bezahlt Sie schließlich.« – »Was bei uns nicht gerne gesehen wird ist, wenn jemand um 18 Uhr den Stift fallen lässt oder sich gegenüber Wochenendarbeit verweigert.« – »Wenn ich durch die größte Schweinwerferfabrik außerhalb Deutschlands gehe und sehe, dass auf allen Bildschirmen das von mir eingeführte System läuft, dann erfüllt mich das mit Stolz.« – »Das ›one-message-for-all-Marketing‹ muss um einige neue Dimensionen ergänzt werden.«

Der Mehrwert dieser Worte ergibt sich aus dem Kehrwert des Leerwertes. Der Leser kann sich dennoch kaum gegen die Vorstellung wehren, dass er kurzzeitig teilhaben darf an einer lockenden Parallelwelt, angefüllt mit atemraubender Ökonomie-Ekstase, frenetischer Karriere-Lyrik, kurzum bewegenden Power-Passionspielen für den Hausgebrauch des Heranwachsenden, der unweigerlich seinen Beitrag zum Abgesang der europäischen Wertegemeinschaft erbringen muss. Anschließend hält man den letzten dreiwöchigen Pauschalurlaub (all inclusive) auf Jamaika für eine Erweiterung eigener »Soft Skills«. Oder wie es hier aliterarisch beschrieben wird: »Strategie in eigener Sache.«

Das Wort »Karriere« findet sich auf 92 Seiten allein in den Überschriften 21 Mal wieder. (Diese Form von inhaltlicher Redundanz erreicht ansonsten nur Paulo Coelho.) Um die redaktionelle Wortgewalt noch zu unterstützen, sind die zahlreichen großformatigen Werbebildchen eifrig inserierender Fortune-500-Unternehmen allesamt moderne Interpretationen des Karrieremotivs voll inhaltlicher Tiefe: barfuß am Laptop, fröhliches Formationsfallschirmspringen, Handstand in Hotpants, Horizonte, Schluchten, Menschen mit visionärem Antlitz – alles hier spiegelt Freiheit und Kompetenz wieder: der beruflich Erfolgreiche als ein ganz normaler (egomaner) Mensch. Die Werbung tut damit ihr Übriges, um den angehenden Leistungsträgern einen psychedelischen Hochglanz-Scherenschnitt mythisch angereicherter Realität zu illustrieren.

Es irritiert aus diesem Grund ein wenig, dass die redaktionellen Bilder demgegenüber Menschen zeigen, deren Anzüge sich noch nicht der Körperform angepasst haben und an den halbwüchsigen Führungskräften hängen wie gefrorene Kaftans. Ihre Krawatten glänzen wie frischer Phosphor. Die jungen Damen tragen Perlenketten, haben beflissene Mäuschengesichter und lächeln dazu. Fotos sind oft mit dem Urheberzusatz »privat« versehen und manifestieren ein gar überzeugendes Selbstbild. Oft lässt sich darin das milde Lächeln des verstehenden Akademikers erkennen. Dazwischen erfährt man, dass Amelie Fried aus Ulm stammt. Ja, das erklärt einiges.

Neben dem Bild als altbewährtem Mittel zur schnellen Glaubensverbreitung erfüllen auch die Slogans der Rekrutierungsanzeigen eine besondere Aufgabe: Alle müssen so klingen wie Titel von Celine-Dion-Songs: »A new challenge every day« (Procter&Gamble). »Be ahead above the rest« (TUI). »What do you give people who have everything?« (JPMorgan). »The world of prospects!« (Deutsche Telekom). Die Mitarbeiterwerbung der Beratungsunternehmen (nahezu die Hälfte aller Inserenten) klingt demgegenüber wie ein religiöser Erbauungschoral: »Entwickeln Sie Ihre Persönlichkeit« (KPMG). »Sie bieten vor allen Dingen Persönlichkeit« (MLP). »Lerne täglich dazu« (Ernst & Young). »Mit neuen Mobilitätskonzepten die Zukunft bewegen« (Roland Berger). »Denken ist Handeln« (BCG). Amen.

Erst die inhaltlich-ästhetische Synthese von Werbung und redaktionellem Teil konstruiert den keimfreien »Spiritus Hochschulanzeiger«. Das Magazin zeigt Leben, ohne Leben zu zeigen. Stellt dar, ohne darzustellen. Warum tut jemand so etwas? Um dem vom Zeitgeist vollständig konditionierten Business-Ich eine schaurig-schöne Bühne der Selbstdarstellung zu bieten und Keimlinge zu generieren. Doch verkommt die Bühne genau jenem narzisstischen Ego zur Posse, weil es in der glatt rasierten Leere der Bilder eigene Substanzlosigkeit vorgeführt bekommt: Im Hochschulanzeiger wird der andächtig versammelten Leistungsgesellschaft ein hübscher Spiegel vorgehalten, der gar nicht reflektiert. Andrea Gruber fliegt derweil, in ihre Akten vertieft, durch die obere Atmosphäre. Welch ein Jubel, welch ein Jammer.