Vermessenes Leiden

In den Niederlanden soll aktive Sterbehilfe auch an schwer behinderten Neugeborenen zugelassen werden. von guido sprügel

Bislang durften niederländische Ärzte Menschen ab dem 12. Lebensjahr, und nur in Ausnahmefällen jüngeren Patienten, Sterbehilfe anbieten. Nun fordern angesehene Mediziner, Sterbehilfe auch bei schwer behinderten Neugeborenen zuzulassen. In US-amerikanischen Medien wurden die niederländischen Befürworter daraufhin als »Barbaren« und »Nazis« beschimpft, der Vatikan bezeichnete die Vorschläge als »Nazi-Euthanasie-Praktiken«.

»Wir sprechen nur von ganz wenigen Fällen pro Jahr in den Niederlanden«, stellt Jenniki Kruse, Pressesprecherin der Universitätsklinik Groningen gegenüber Jungle World sofort klar. Die Aufregung in den internationalen Medien wegen des so genannten »Groninger Protokolls« versteht sie überhaupt nicht. Darin werden Empfehlungen abgegeben, wann an unheilbar kranken Neugeborenen aktive Sterbehilfe vollzogen werden sollte. Allerdings hat der Kinderarzt Eduard Verhagen schon vor über zwei Jahren mit der Ausarbeitung des Protokolls begonnen. Seine Kollegen und er hätten unter massivem Handlungsdruck gestanden. »Die Eltern von schwer behinderten Kindern stehen weinend vor den Ärzten und flehen sie an, dem Leiden ein Ende zu bereiten«, stellt Kruse klar.

Der Kinderarzt Verhagen versucht, die Situation in seiner Presseerklärung möglichst anschaulich darzustellen: »Es werden manchmal Kinder geboren, die kein Gehirn haben. Es gibt Neugeborene, die fast nicht atmen können, weil ihre Lungen nicht entwickelt sind.« Solchen Babys könne einfach nicht geholfen werden. An ihnen werde die Sterbehilfe auch jetzt schon still und heimlich vollzogen. »In Holland wollen wir solche Sachen aber nicht hinter verschlossenem Vorhang machen, sondern offen«, erläutert Kruse.

Also ging Verhagen mit dem Thema an die Öffentlichkeit. Zunächst holte er sich die nötige rechtliche Absicherung, indem er vorab mit dem Haager Justizminister Piet Hein Donner und dem Generalstaatsanwalt der Niederlande die Einzelheiten zur erweiterten Sterbehilfe absprach. Dann stellte er Ende Dezember das »Groninger Protokoll« der Öffentlichkeit vor. Demnach soll aktive Sterbehilfe bei Neugeborenen möglich sein, wenn die Schädigung so stark ist, dass es keine medizinischen Möglichkeiten gibt, dem Kind zu helfen. Zudem müssen die Eltern der aktiven Sterbehilfe zustimmen und es muss die Meinung eines weiteren, unabhängigen Arztes eingeholt werden. Nur ein Arzt darf das Leben des Babys beenden.

Verhagens Kollegen nahmen den Vorschlag sehr positiv auf. Mittlerweile fordern die Kinderärzte aller acht holländischen Universitätskliniken die Einführung des »Groninger Protokolls« als verbindlicher Rechtsgrundlage. Die Regierung in Den Haag hat angekündigt, sich in den nächsten Monaten zu dem Thema zu äußern.

Das Thema ist brisant, da es sich bei den potenziellen Empfängern der Sterbehilfe um Neugeborene handelt, die dem Eingriff nicht zustimmen können. Dem Baby wird quasi a priori das Lebensrecht versagt. Das vermeintliche Leid kann dem Neugeborenen nur durch die Ärzte attestiert werden; ein Messgerät dafür gibt es noch nicht.

Genau dieser Punkt beunruhigt Eugen Brysch, den Geschäftsführenden Vorstand der Deutschen Hospiz-Stiftung, der seit Jahren gegen die Einführung eines Sterbehilfegesetzes in Deutschland kämpft. »Leid, Glück und Würde kann man nicht objektivieren und in einen Gesetzestext gießen. Das alles wird individuell unterschiedlich empfunden.« Leide der eine schon bei einem Hundertmeterlauf, empfinde die andere möglicherweise erst ab 5 000 Metern ihren körperlichen Zustand als Leid. Auch sieht Brysch eine ungeheure Dynamik in der niederländischen Diskussion. Immer neue Patientengruppen geraten seit Einführung der Sterbehilfe vor drei Jahren in die Diskussion. Muss heute scheinbar die Frage bei unheilbar kranken Neugeborenen geregelt werden, fordert eine niederländische Regierungskommission bereits die Freigabe der Euthanasie bei psychisch Kranken und Menschen mit Selbstmordabsichten. Die sozialistische Fraktion hat bei der Zulassung der aktiven Sterbehilfe für Erwachsene vor drei Jahren genau diese Entwicklung befürchtet und gegen die Vorlage gestimmt. Anstatt die Probleme zu lösen, werde die gesetzliche Zulassung weitere Probleme schaffen, mahnten Kritiker damals.

Neben der Schweiz sind die Niederlande der einzige europäische Staat, der die aktive Sterbehilfe per Gesetz unter starken Auflagen bei komatösen und unheilbar kranken Patienten erlaubt. Zu den Regelungen gehört, dass die Leiden des Patienten aus ärztlicher Sicht unerträglich sind und es keine Hoffnung auf Besserung gibt. Zusätzlich muss der behandelnde Arzt einen Kollegen hinzuziehen und die Sterbehilfe abschließend melden. 2002 wurde in den Niederlanden offiziell in 2 123 Fällen von der aktiven Sterbehilfe Gebrauch gemacht, ein Jahr später lag die Zahl bei 1 815. Daneben existiert eine hohe Dunkelziffer. Das niederländische Gesundheitsministerium geht davon aus, dass im vergangenen Jahr mindestens 1 000 Fälle nicht angezeigt wurden.

Darüber hinaus bestehen erhebliche Zweifel, ob die gesetzlichen Regelungen von den Ärzten immer befolgt werden. Eine Studie der niederländischen Regierung, die der Spiegel veröffentlichte, kam zu haarsträubenden Ergebnissen: Demnach töteten Ärzte in 38 Prozent der Fälle die Patienten nicht nur, weil sie unheilbar krank waren, sondern auch, weil »die Nächsten es nicht mehr ertragen« konnten.

Auch in Deutschland sprechen sich immer mehr Menschen dafür aus, aktive Sterbehilfe zu legalisieren. Nach einer TNS-Emnid Umfrage im Auftrag der Tageszeitung Die Welt befürworten 79 Prozent der Deutschen die gesetzliche Freigabe der Sterbehilfe. Als Grund dafür geben die Befragten u.a. an, dass sie mit einer Verschlechterung der medizinischen Versorgung in Deutschland rechnen. Der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin forderte ebenfalls eine »Sonderlösung für ganz wenige Fälle in Deutschland«. Ganz zwanglos macht sich zudem der FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt unter dem Schlagwort »Selbstbestimmung« für gesetzlich zugelassene Sterbehilfe stark.

Allerdings konkretisiert er nicht, was unter »Selbstbestimmung« verstanden werden soll. Kein Wunder, werden in Deutschland doch schwer kranke und sterbende Patienten in der Regel allein gelassen. In nur zwei Prozent der Fälle wird diese Patientengruppe palliativ, d.h. umfassend medizinisch, sozial und psychologisch betreut. Das bei den leidenden, allein gelassenen Menschen dann schnell der Gedanke aufkomme, »von ihren Schmerzen erlöst« werden zu wollen, ist für Brysch nur logisch. »Dieser Wunsch bedeutet aber oft nichts anderes, als die Bitte um ›Erlösung‹ von diesen furchtbaren Lebensbedingungen und vom Alleinsein«, fügt er hinzu.