Der Fall Michail C.

Die Yukos-Affäre bedeutet keine Rückkehr zu sowjetischen Verhältnissen. Sie ist vielmehr typisch für das Verhältnis von Staat und Kapital. von markus euskirchen

Die inzwischen offizielle Version des Falles Yukos in den hiesigen Medien geht ungefähr so: In den wilden neunziger Jahren in Russland eignete sich der ehemalige Komsomol-Sekretär Michail Chodorkowski das Energieunternehmen Yukos an – mit nicht ganz sauberen Mitteln zwar, aber das war zu dieser Zeit üblich. Anschließend baute er Yukos um, verwandelte es in ein erfolgreiches, so genanntes modernes und transparentes Unternehmen mit internationaler Buchführung und westlichen Managern.

Chodorkowski wurde zum reichsten Mann des Landes und mischte sich schließlich auch in die Politik ein. Irgendwann aber wurde er Russlands Präsident Wladimir Putin zu mächtig. Der Kreml (er-) fand eine dubiose Steuerschuld von Yukos über satte 25 Milliarden Dollar. Chodorkowski landete im Gefängnis. Das Kernstück von Yukos, die Ölförderfirma Juganskneftegas, wurde an das staatseigene Unternehmen Rosneft übereignet, also verstaatlicht. Auf diese Weise entledigte sich Putin eines Konkurrenten und erfolgreichen Unternehmers und demonstrierte damit, was wir eigentlich schon wussten: Putin ist ein Diktator, und in Russland regiert nicht das Recht, sondern die Gewalt. Bundeskanzler Gerhard Schröder wiederum hielt in der ganzen Sache still, weil er auf lukrative Aufträge Russlands hofft und ihn mit Putin zudem eine ziemlich »intime Männerfreundschaft« verbindet. Und wie meist erzählen uns die Medien nichts als die Wahrheit, verpassen dabei aber mindestens drei Lehren aus dem Fall Yukos.

Alles fängt mit der Unzufriedenheit der russischen Regierung an. Sie ist unzufrieden mit der ökonomischen Verfassung des von ihr regierten Staates. 14 Jahre nach der Einführung des Kapitalismus ist eine nennenswerte Kapitalakkumulation nicht zustande gekommen. Von einer entwickelten privatkapitalistischen Wirtschaft kann in Russland lediglich im Rohstoffsektor die Rede sein, vor allem im Energiesektor, was die allgemein bekannte und kritisierte »Ölabhängigkeit« Russlands zur Folge hat. Was an Steuern und Devisen in die Staatskasse fließt, steht und fällt erstens mit dem Weltmarktpreis für Öl und Gas. Zweitens sind diese Mittel zu gering für ein Land, das versucht, seinen Status als Weltmacht zu halten.

Die russische Regierung versucht nun, ihre Wirtschaft zu diversifizieren und auch in anderen Bereichen kapitalistisches Wachstum zu fördern. Die Mittel dafür will sie aus dem Energiesektor holen. Und hier trifft sie auf den Widerstand der so genannten Oligarchen, sprich: der Privateigentümer der Öl- und Gasgesellschaften. Sie haben sich auftragsgemäß bereichert. Sie teilen aber gar nicht die Auffassung, dass Russland Wachstum brauche. Sie wollen ihren Reichtum lieber für die Vermehrung ihres Reichtums einsetzen. Daher investieren sie eher in den erfolgreichen Staaten der Welt als in ihrem eigenen Land. Sie versuchen, Steuern zu vermeiden, verschieben kostbare Devisenerlöse ins Ausland und treiben so die »Kapitalflucht« voran, die im vergangenen Jahr etwa 18 Milliarden Dollar betrug. Das vermeintlich transparente Firmengeflecht von Yukos zum Beispiel erstreckte sich von Russland über die Steueroasen Zypern und Gibraltar bis in die USA, um auf diese Weise dem russischen Fiskus zu entkommen.

Deutlich wurde dieser Gegensatz von Privatwirtschaft und Staat im Falle Yukos an der Frage der Energieversorgung. Die russische Regierung forderte vom Ölkonzern, dass er arme, entlegene Provinzen zu niedrigen Preisen mit Energie beliefern solle, einfach deshalb, um auch dort elementare Standortbedingungen wie »gesunde Arbeitskräfte« und eine funktionierende Infrastruktur zu erhalten. Chodorkowski hingegen verlangte für Lieferungen den Weltmarktpreis – und wurde darin von der EU unterstützt, die »ehrliche Preise« forderte und damit zeigte, dass es ihr offensichtlich ebenfalls egal war, wie verarmte russische Haushalte durch den Winter kommen. Chodorkowski drohte schließlich indirekt auch mit dem Ende der Energielieferungen an die Regionen.

Im Kern geht es um eine handfeste Machtfrage. Yukos hatte Politiker geschmiert – 60 Prozent der Duma-Abgeordneten sollen auf der Gehaltsliste irgendeines Großunternehmens stehen –, Putins politischen Gegnern wie der liberaldemokratischen Partei Jabloko und der Kommunistischen Partei Geld gegeben und zugleich öffentlich die Korruption in den höheren Rängen der russischen Staatsbürokratie angeprangert. Die Staatsmacht antwortete mit Steuerbeamten, die in Begleitung schwer bewaffneter, maskierter Einheiten das Unternehmen durchsuchten. Dies war eher ein Zeichen der Schwäche der Staatsmacht, sah sie sich doch genötigt, die Geltung ihrer Gesetze mittels Sondereinheiten erst herzustellen.

Als Chodorkowski schließlich ohne Rücksprache mit dem Kreml ein großes Aktienpaket von Yukos an den US-Konzern Exxon-Mobil verkaufen wollte, um Yukos dem Zugriff der russischen Regierung zu entziehen, wurde ihm dies als »Schädigung nationaler Interessen« angekreidet. Zudem wollte er Yukos mit Sibneft, dem Energiekonzern des Oligarchen Roman Abramowitsch, zusammenschließen und so noch mächtiger werden. Abramowitsch machte jedoch nach einer Unterredung mit Putin einen Rückzieher, so dass Sibneft unangetastet blieb. Chodorkowski landete im Knast, Yukos wurde aufgeteilt und das Herzstück Juganskneftegas an die staatliche Rosneft in einer »Versteigerungs-Farce« (Spiegel) verkauft.

Die erste Lehre lautet: Für potente Staaten ist das Privateigentum nicht heilig und kein Selbstzweck. Es soll der Mehrung der staatlichen Macht dienen. Versagt es diesen Dienst, wird es abgeräumt und so klargestellt, dass es – zweite Lehre – die (Staats-)Gewalt ist, die das Recht setzt. Nichts wäre also dümmer als der Satz: »In Russland herrscht nicht das Recht, sondern die Gewalt.« Ohne Gewalt kein Recht. Das wusste auch Chodorkowski, der versuchte, Yukos durch internationale Beteiligungen ausländischen Staatsgewalten zu unterstellen.

Sein Plan, den Konflikt um das Energieunternehmen zu internationalisieren, ist jedoch gescheitert. Dabei hätten westliche Regierungen jede Menge erstklassige Einspruchstitel in der Sache gehabt. Zum Beispiel die Verletzung des sonst so heiligen Rechts auf Privateigentum oder der »Menschenrechte« Chodorkowskis. In einem letzten Rettungsversuch beantragte Yukos sogar Gläubigerschutz im US-amerikanischen Texas. Das Gericht in Houston untersagte auch die Zerschlagung von Yukos. Doch die russische Regierung hielt sich nicht an den Richterspruch. Zwar schlugen sich die westlichen Medien auf die Seite von Yukos. Die Regierungen der USA und Europas hingegen hielten still. Es handle sich, wie beim Krieg in Tschetschenien, um eine »rein russische Angelegenheit«, ließ Kanzler Schröder wissen.

Diese Enthaltung hat ihre Gründe in den politischen und ökonomischen Interessen, die die großen Nato-Staaten an Russland und Putin haben. Zwar hat Chodorkowski sogar eine Million Dollar der Amerikanischen Nationalbibliothek gespendet und sich in Sachen Irak auf die Seite der USA geschlagen. Für US-Präsident George W. Bush ist Putin jedoch derzeit der Verbündete im »Krieg gegen den Terrorismus«. Russland billigte den Krieg gegen Afghanistan, verhielt sich beim Irak-Krieg still und wehrte sich weder gegen die Ost-Erweiterung von Nato und EU noch gegen die Einrichtung von US-Militärbasen in den ehemaligen südlichen Sowjetrepubliken. Dafür erlaubt man Russland u. a. das Gemetzel in Tschetschenien.

Deutschlands Berechnungen gehen hingegen etwas anders. Ökonomisch erhofft man sich mehr Vorteile an der Seite Putins. So hat der Präsident angekündigt, Russland werde vorzeitig einen Teil seiner Schulden bei Deutschland zurückzahlen. Zudem kauft Deutschland jährlich Erdgas für vier Milliarden Euro von Russland, das ist rund ein Drittel des deutschen Bedarfs. Der deutsche Konzern Eon hat gemeinsam mit der quasi staatlichen Gasprom ein Tochterunternehmen, mit dem man Gasfelder in Sibirien erschließt. Mit Gasprom macht auch BASF Geschäfte, und die Deutsche Bank hat dem Konzern Kredite bereitgestellt – u. a. zur Übernahme der Yukos-Firma Juganskneftegas. Siemens und RWE wollen ihr »Know-how« bei der Erneuerung der russischen Energieversorgung einbringen. Auch mit Putins Machtkonzentration kann die Geschäftswelt gut leben: »Manches wird einfacher«, brachte es jüngst ein Analyst der Investmentbank CS First Boston auf den Punkt. »Man braucht nur noch zu wissen, wer ein guter Freund Putins ist, um auf der sicheren Seite zu sein.«

Zu den ökonomischen Vorteilen gesellt sich die »Männerfreundschaft« zwischen Schröder und Putin, die offensichtlich die frühere »Männerfreundschaft« zwischen Kanzler Helmut Kohl und Präsident Boris Jelzin abgelöst hat. Nicht weniger als 28 Mal haben sich Schröder und Putin bereits getroffen, Schröder hat mittlerweile sogar eine russische Adoptivtochter.

Solide Grundlage dieser deutsch-russischen Freundschaft sind letztlich die russischen Atomwaffen und die aus ihnen resultierende Macht. »Der Kanzler versucht, mit Putin und (Frankreichs Präsident Jacques) Chirac, Weltpolitik von europäischem Boden aus zu machen«, kommentiert die Süddeutsche Zeitung. Jetzt haben die russische Raumfahrtagentur und die European Space Agency auch noch einen Kooperationsvertrag unterzeichnet. Mit zwei Atommächten gegen die USA.

Da die Nato-Staaten zwar Russland für ihre Zwecke instrumentalisieren wollen, das Land aber dennoch seine eigenen Ziele verfolgt, wird weiterhin auch mit Kritik an Putins Politik zu rechnen sein. Diesen Part haben – wer sonst? – die Grünen übernommen: Während Schröder sein »strategisches Interesse« an Russland betont, warnte der Grünen-Vorsitzende Reinhard Bütikofer im Oktober vor dem »diktatorischen Kurs« Putins. Statt materieller Interessen sollten Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie die Leitlinien deutscher Russland-Politik sein. Und das ist die dritte Lehre: Mit der Beschwerde »Schröder schielt bloß auf strategische Vorteile« können deutsche Staatsinteressen weiter verfolgt werden, und gleichzeitig wird der Anschein gewahrt, es ginge in der Politik eigentlich um »Werte«.