Die Dialektik des Ovals

Zur Kritik des Sechstagerennens von martin krauss

Es dauert keine zehn Tage, sondern nur sechs. Und es sind keine Tage, die die Welt erschüttern, sondern nur solche, die sie erträglicher machen. Daher nennt sich das Ganze auch nicht Revolution, sondern schlicht Sixdays, aber dennoch besteht kein Grund zur Annahme, dass es hier nicht proletarisch zur Sache ginge.

Die Grundidee der Sixdays ist so schlicht wie ihr Name. Sechs Tage lang fahren Profiradsportler, die sich zu Zweierteams zusammengefunden haben, auf einer ovalen Holzbahn im Kreis, veranstalten ausgetüftelte Wettbewerbe, die »Große Jagd«, »Punktefahren«, »Mannschaftsausscheidung« oder »Rundenrekordfahren« heißen. Der Sport, der dabei geboten wird, findet beim Publikum großes Interesse, aber insbesondere weil die Wettbewerbe abends und nachts stattfinden, gehört noch etwas anderes dazu. Also gibt es noch ein Showprogramm.

In Berlin, wo die Sixdays am Dienstag zu Ende gingen, steht beinahe alle siebeneinhalb Meter ein Schultheiss-Stand, was dem Charakter eines proletarischen Volksfestes überhaupt nicht im Wege steht. Ein einsamer Zapfstand von Schöfferhofer Weizen fand deutlich weniger Interesse. Die BVG und die B.Z. sind genauso da wie unendliche Fressstände.

Von Lenin, dessen Lebenswerk ja in John Reeds »Zehn Tage, die die Welt erschütterten« verewigt wurde, stammt die Behauptung, ein Kapitalist würde den Revolutionären auch noch den Strick verkaufen, mit dem er letztlich gehängt würde. Dabei beweist ja jedes Che-Guevara-Poster, dass revolutionäre Symbole auch prinzipiell zu verdinglichen und also potenziell warenförmig sind.

Daher findet sich am Rande des Berliner Sechstagerennens zwar auch ein Stand des Friedensfahrtmuseums und der eines anderen DDR-Devotionalienhändlers, aber eben auch Schultheiss in allen Formen. Sogar Schultheiss-Politessen laufen mit strengem Blick herum, und schon die rote Farbe ihrer Fantasieuniform deutet an, dass sie die legitimen Nachfahren kommunistischer Saalschützer der dreißiger Jahre sind.

Mit Verweis auf die Firma Schultheiss die kapitalistische Durchdringung der Sixdays zu kritisieren, ist jedoch unoriginell. Schließlich gäbe es das Sechstagerennen ohne Kapitalismus nicht, wie es ja auch kein in Massenproduktion gefertigtes untergäriges Bier gäbe.

Aber die Eleganz, mit der die Spitzenfahrer auf ihren Rennrädern sitzen und Geschwindigkeiten von zum Teil über 60 Stundenkilometern erreichen, gibt eine Ahnung davon, wozu Menschen nach Überwindung der arbeitsteiligen Klassengesellschaft fähig wären. Diese Leistung wird erbracht in verkörperter Dialektik von individueller und kollektiver Leistung.

Abbildhaft hingegen ist die Symbolik der Bewegungsform. Man fährt im Kreis, tritt die Pedale im Kreis, wodurch die Räder im Kreis gedreht werden. Hier drückt sich der Zwang zur steten Reproduktion aus, deren Ergebnisse, selbst dann, wenn sie sich Rente nennen, in der Klassengesellschaft ständig prekär bleiben. Und, letztlich, die Nähe, mit der die Fahrer ihrem Publikum begegnen, wenn sie am oberen Rand der Bahn fahren, und die Distanz, die sie allein durch ihre Schnelligkeit, also ihre körperlichen Fähigkeiten herstellen, entspricht der Dialektik der revolutionären Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft: dabei und doch dagegen.