Freiheit und Kollektivität

Emanzipation heißt, in einem auf freier Assoziation beruhenden Kollektiv zu handeln, ohne dass dies auf Kosten anderer geschieht. von bernhard schmid

Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.« Diesen Satz sagte einst Friedrich Engels, und vor ihm Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Mit Emanzipation, so scheint es auf den ersten Blick, hat das nichts zu tun: Wo Determinismus herrscht, gibt es keine Freiheit – die ja grundsätzlich ein selbst bestimmtes Handeln voraussetzt -, sondern nur die strikte Befolgung vorab feststehender Regeln.

Doch man kann die oben zitierte Feststellung auch als Handlungsmaxime in dem Sinne auffassen, dass das eigene Agieren den gesellschaftlichen Bedingungen und der geschichtlichen Situation angepasst sein muss, um Wirkung entfalten zu können. So lässt sich für vernünftige Menschen unschwer nachvollziehen, dass Beten noch selten gegen körperliche Gebrechen geholfen hat. Ähnlich verhält es sich mit »Gebeten für den Frieden« als praktikable Methode gegen die Vorbereitung von Kriegen oder mit dem Kerzenanzünden und Händchenhalten als Kampfstrategie gegen Neonazis. Wer es unbedingt will, mag es unbehelligt tun, aber »notwendig« ist etwas anderes.

Nach der Geschichtstheorie Hegels ergab sich das historisch »Notwendige« aus einem großen und in sich stimmigen Plan für die Weiter- und Höherentwicklung der Menschheit. Dahinter wiederum steckte der »Weltgeist«. Zwar stellten Marx und Engels das Weltbild Hegels, wonach Ideen der materiellen oder realgeschichtlichen Entwicklung voraus gehen, vom Kopf auf die Füße. Doch Vulgärmarxisten und die an der Legitimation neuer Herrschaft orientierten Stalinisten übernahmen im Kern die Hegelsche Vorstellung von einem großen und perfekten Geschichtsplan.

Demnach existieren so genannte eherne Gesetze der Geschichte, aus denen sich der Übergang von einer Gesellschaftsform in die andere »notwendig«, quasi mechanisch ergibt, sobald das dafür notwendige Niveau der Produktivkraftentwicklung erreicht ist. Soziales Handeln hat sich darauf zu beschränken, diesen Regeln zu folgen, wobei lediglich ein Akteur, die Partei, Einsicht in den Spielplan besitzt.

Bekanntlich hat das nicht funktioniert. Die diversen Fehlentwicklungen und Rückschläge bei den bisherigen Versuchen, eine sozialistische Gesellschaft zu errichten, sind Belege dafür. Wichtiger noch ist, dass barbarische Einschnitte in der jüngeren Menschheitsgeschichte – wie etwa die Periode des Faschismus und Nationalsozialismus, die Marx und Engels freilich kaum voraussehen konnten – in dem Masterplan nicht vorkamen, der eine mehr oder minder lineare Vorwärtsentwicklung zum gesellschaftlichen Fortschritt suggeriert.

Nun kann man die Vorstellung eines solchen Plans auch in die Schriften von Marx und Engels hineinlesen, wenn man möchte. Tatsächlich waren beide zumindest davon überzeugt, dass die Menschheitsgeschichte von niedrigeren zu höheren Gesellschaftsformen verlaufe. Das leiteten sie aus der Entwicklung vom Tier zum Menschen ab. Im Tierreich existieren auf das reine biologische Überleben ausgerichtete Verhaltensweisen – etwa »Fressen und Gefressenwerden« –, die in der menschlichen Gesellschaft nicht mehr nötig wären. Allerdings findet man sie in den meisten menschlichen Gesellschaften doch, so etwa soziale »Hackordnungen« oder die Vorstellung von Überlebenskämpfen, die mit der Sicherung von Lebensgrundlagen nichts zu tun haben.

Man könnte behaupten, die Überwindung solcher sozialer Mechanismen und damit auch die von Herrschaft und Dominanz sei vernünftig und in dem Sinne »notwendig«, dass sie ohne Zweifel verzichtbar sind: Das Überleben der gesamten Menschheit ließe sich heute grundsätzlich problemlos bewerkstelligen, niemand müsste Not leiden. Aber der Weg dahin ist alles andere als geradlinig, vielmehr findet ein permanentes Ringen zwischen verschiedenen sozialen Verhaltensangeboten und Handlungsoptionen statt. Insofern impliziert gesellschaftlicher Fortschritt im Sinne der Überwindung von ungleicher Verteilung, menschlicher Not und Unterdrückung neben den »objektiven« materiellen Möglichkeiten, die heute im Prinzip vorhanden sind, immer auch subjektive (kollektive) Entscheidungen zwischen Handlungsalternativen und »Wertvorstellungen«. Wenn es mir schlechter zu gehen droht, dann kann ich darauf reagieren, indem ich mich mit anderen zusammenschließe und für eine bessere Verteilung (und vor allem eine andere Produktionslogik) eintrete. Oder aber ich treffe für mich die Entscheidung, dass ich meine Interessen besser durchsetzen kann, wenn es anderen Menschen schlechter geht, da ich an die Möglichkeit einer gerechten Verteilung der Ressourcen nicht glaube oder sie ablehne. Ich kann meine Entscheidungen auf Kosten von Einwanderern treffen, von Andersgläubigen, von Menschen in unterworfenen Ländern oder im Extremfall auf Kosten von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen.

Daraus ergeben sich bestimmte Notwendigkeiten gesellschaftlichen Handelns, die sich eben nicht vorwiegend aus einer planmäßig bestimmbaren, materiellen Determiniertheit ableiten lassen.

Die erste Notwendigkeit ist jene kollektiven Handelns, das, im Gegensatz zum individuellen Handeln, in der Rezeption oder eher Verballhornung der Kritischen Theorie in bestimmten aktuellen Debatten grundsätzlich als negativ besetzte Chiffre behandelt wird. Tatsächlich muss der Begriff des Kollektiven geklärt werden, weil es unterschiedliche, sich widersprechende Auffassungen davon gibt. Hier ist bestimmt nicht gemeint: »Du bist nichts, dein Volk ist alles« (NSDAP). Ebenso wenig das: »Uniform und Marschmusik brennen auch dem kleinen Spießer die Überzeugung ein, als kleiner Wurm dennoch Glied eines großen Drachens zu sein« (Adolf Hitler). Und auch folgendes nicht: »Die natürlichen Gemeinschaften, die es zu stärken gilt, sind Familie, Kommune, Berufsstände und historisch gewachsene Landschaften statt ideologischer und finanzieller Lobbygruppen«, wie es der französische rechtsextreme Politiker Bruno Gollnisch formulierte. Auch der hierarchisch aufgebaute »Ameisenstaat« ist natürlich kein Kollektiv in einem emanzipatorischen Sinne.

Gemeint ist eine Kollektivität in ganz anderem Sinne, wenn von Emanzipation die Rede ist, verkörpert etwa durch den Solidaritätsbegriff der historischen Arbeiterbewegung. Als Grundregel lässt sich feststellen, dass die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv im fortschrittlichen Sinne frei wählbar sein muss. Der Begriff lässt sich niemals auf »Gemeinschaften« beziehen, die vor allem auf Abstammung gegründet sind wie beispielsweise Na-tion, Konfession oder gar »Rasse«. Hierbei handelt es sich in unterschiedlichem Ausmaß um ideologische Konstruktionen. Die Notwendigkeit kollektiven Handelns auf solche vermeintlich angeborenen Eigenschaften zurückzuführen, bedeutet, die Menschen zum Teil einer im Kern biologisch oder jedenfalls als »natürlich« definierten Gruppe zu erklären, die notfalls mit anderen »natürlichen« Gruppen um ihr Überleben kämpft. Damit droht automatisch, jedenfalls in Krisenzeiten, ein Umkippen in menschliche Barbarei oder metaphorisch gesprochen: der Rückfall ins Tierreich.

Aus den genannten Gründen ist es unabdingbar, an der Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft festzuhalten. Sie findet sich bereits bei Karl Marx, der mit den Begrifflichkeiten »Natur« und »Kultur« operiert. Heute ist diese Terminologie ihrerseits problematisch geworden, da in den vergangenen Jahrzehnten der Begriff »Kultur« dazu missbraucht wurde, Gesellschaftliches zu naturalisieren, indem es für angestammt oder angeboren erklärt wurde. So etwa, wenn von »Unterschieden zwischen den Kulturen« oder gar vom »Kampf der Kulturen« die Rede war. In diesem Sinne sind die Begriffe zu klären und klar voneinander abzugrenzen.

Es geht darum, dass menschliche Gesellschaften grundsätzlich nach anderen Gesetzmäßigkeiten funktionieren können als das Tierreich und die sonstige belebte Umwelt, wo sich biologisch bedingte Überlebensregeln nicht außer Kraft setzen lassen. Den Unterschied zwischen Natur und Gesellschaft zu verwischen, wie es David Kaeß (Jungle World, 04/05) ansatzweise tut, ist gefährlich. Etwas völlig anderes ist der ebenso notwendige wie richtige Hinweis darauf, dass die heutigen menschlichen Gesellschaften dabei sind, ihre belebte wie unbelebte Umwelt und damit ihre eigenen Lebensgrundlagen auf teilweise unwiederbringliche Weise zu zerstören.

Die Menschheit stößt tatsächlich an eine äußere Grenze ihrer Entwicklung, wenn sie das sonstige Leben auf dem Planeten in weiten Teilen zu vernichten droht und auch von den mineralischen Ressourcen nicht viel übrig lässt. Das wirft grundsätzliche Fragen auf: »Wer produziert? Was wird produziert? Wofür wird produziert?« Dennoch haben innerhalb der menschlichen Gesellschaft keine »natürlichen« Gesetze zu gelten. Ökologie im Sinne des Kampfs gegen die Plünderung und Zerstörung der Umwelt, das materielle Anliegen, lässt sich unterscheiden von einer als Ökologie bezeichneten Ideologie. Es lassen sich leicht gesellschaftliche Ideologien einführen oder wieder beleben, die »aufgrund der ökologischen Erfordernisse« Geltung beanspruchen. Eine davon ist die Idee vom Menschen als Bestandteil einer göttlichen Schöpfung, eine andere die Vorstellung, das Grundübel der Industriegesellschaften bestehe darin, dass biologische Prinzipien wie etwa die »natürliche Auslese« keine Anwendung mehr finden. Solche Ideologien laufen auf das Gegenteil von Emanzipation hinaus.