Roher Stoff

Je älter er wird, desto radikaler ist seine Musik. Zum 75. Geburtstag von Derek Bailey. von felix klopotek

Hey, das klingt aber schräg, sagte man früher, wenn man Musik hörte, die irgendwie nicht Mainstream war. Heute klingt das betulich, was gilt nicht alles als schräg! Und man sagt lieber »kaputt«, »krank«, »irre«. Der Sound Derek Baileys klingt allerdings schräg. Im wahrsten Sinne des Wortes: Als spiele er auf der Gitarre irgendwas, was dazwischengerutscht ist, in ein Niemandsland jenseits der Tonarten und Skalen. Mit dem Volumenpedal steuert er die Klangdynamik der E-Gitarre. Er lässt den Sound der dissonanten Akkorde anschwellen, bis sie im Rauschen einer Rückkopplung untergehen. Unmerklich verdichtet er seine Aktionen. Er greift Cluster, durchsetzt die Klangbrocken mit schnellen Läufen, benutzt Flageoletttechniken, die Obertöne schrillen. Zerhackt, gedehnt, dann wieder abrupt gestoppt wird der Sound durch die Kombination von eigenwilligen Anschlagtechniken und der raschen, zuckenden Bedienung des Volumenpedals. Das ist ein völlig eigener Rhythmus, die perfekte A-Synchronisation, die Musik scheint nicht mal sich selbst und ihrer eigenen Logik zu gehorchen. Ein kunstvolles, anmutiges, ungeheuer schnelles Stolpern. Alles andere als kaputt.

Die meisten Musiker, die vor 40 Jahren anfingen, sich an der freien Improvisation zu versuchen, und die den Begriff der Improvisation vom Jazz und der Neuen Musik emanzipierten, waren verdammt jung, Anfang, Mitte Zwanzig. Improvisierte Musik war die erste professionelle Station ihres Lebenslaufes. Dementsprechend wild und ungezügelt kam der frühe Free Jazz daher, für eine kurze Zeit war diese Musik tatsächlich Teil einer Jugendbewegung. Wie die meisten Revolutionen wurde auch diese faltig und verknöchert, und die im Prinzip freiestmögliche Musik wirkte abgestanden und vorhersehbar.

Derek Bailey ist da die große Ausnahme. Nicht weil der Gitarrist ein Genie ist. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Bailey ist ein Genie, aber ein Genie braucht gewisse Lebensumstände, die das Genialische überhaupt zur Geltung bringen können. Bailey war bereits ein älterer Typ, Jahrgang 1930, als er sich an den frühen Manifestationen der radikalen Improvisation beteiligte. Er hatte das Glück, eine exemplarische – und gescheiterte – Musikerkarriere hinter sich zu haben und noch einmal von vorne beginnen zu können. Ein Neuanfang, geboren aus Illusionslosigkeit; lakonisch und unsentimental. Er ist den umgekehrten Weg gegangen: Die milden, friedlichen Sachen hat er als junger Musiker gespielt; aber je älter er wird, desto radikaler wird er. Dementsprechend lautet sein Wahlspruch: »Improvisation is not a name that opens any doors – except the exit door.« Das unterscheidet ihn von den jungen Genossen, die in ihrer musikalischen 68er-Revolte glaubten, den Atem der Geschichte zu spüren.

Diese Haltung ist eine Konsequenz aus den Erfahrungen, die er im Musikgeschäft gemacht hat. Bevor sich Bailey ab Mitte der sechziger Jahre ganz der Improvisation verschreibt, verdiente er, der aus dem Arbeitermilieu Sheffields stammt, seinen Unterhalt als herumziehender Musiker und später als Studiomusiker.

In der musikalischen Halbwelt der Tanzsalons und Nachtclubs gefiel es ihm recht gut. Dort zu musizieren, war für Bailey eine prima Ausrede, um nicht wie der Rest seiner Familie in die Fabrik zu müssen. In der lebendigen englischen Dancehall-Kultur, die noch nichts von Rock’n’Roll wusste, nahm er eine ähnliche Rolle ein wie heute der DJ. Bei relativ großer musikalischer Freiheit sollte er für den Flow sorgen, der die Leute unterhält und stimuliert, aber nicht weiter auffällt: Er hatte den Job, die Leute zum Tanzen zu bringen, und ansonsten alle Freiheiten.

Je mehr sich der Tonträger durchsetzte und mit ihm der Interpret als Popstar, verengte sich Baileys Handlungsspielraum. In den Dancehalls wollte man nun die Musik der angesagten Singles hören. Frustriert stieg Bailey auf einen Job als Studiomusiker um, der ihm aber noch ungemütlichere Arbeitsbedingungen bescherte. Als anonymer Gitarrist musste er beliebige Musik für Alben einspielen, von denen er nicht wusste, wie sie hießen.

Wer zum ersten Mal Statements von Bailey liest, der mag zurückschrecken. Die Haltung ist schrecklich asketisch. Es geht nun mal um radikale Improvisation, und das heißt: keine Melodien, kein fixierter Rhythmus, keine Absprachen jeglicher Art. Derek Bailey verzichtet darauf, regelmäßig mit einer Gruppe zusammenzuarbeiten. Die beste Improvisation, dekretiert er, ergibt sich in dem einmaligen Zusammentreffen unterschiedlicher Musiker.

»Non-idiomatisch«, keinem überlieferten (musikalischen) Bild entsprechend – so hat er seinen Anspruch auf den Punkt gebracht. Dabei geht es ihm nicht um »absolute Freiheit«, auch nicht um »wahre Improvisation«. Die beste Improvisation ist die, die sich selbst in Frage stellt. »Improvisation heißt, nicht zu wissen, was es ist – bis man es tut«, so seine knappe Definition. Vielleicht kann man sagen: Noch mehr als Improvisation liebt er das Musikmachen, das Zusammenspielen. Es ist paradox, er spitzt den Improvisationsbegriff zu – bis zum Reinheitsgebot, und dennoch ist Improvisation kein Wert an sich, sondern immer Mittel zum Zweck.

Der Begriff »non-idiomatisch« meint in diesem Zusammenhang ein Spiel, das ausschließlich auf die individuellen Techniken und Vorgaben des Musikers rekurriert. Bailey wollte nie mit aller Macht anders sein, sondern bloß das Naheliegende tun: sich ein unverstelltes Verhältnis zum Mitspieler und zum Instrument erarbeiten. Melodien oder Harmonien gelten ihm folglich als verdinglichte Systeme, die sich zwischen Musiker und Instrument aufspreizen. »Der Rohstoff der Improvisation«, hat er in einem Interview gesagt, »ist das Instrument, die Gesamtheit der instrumentalen Techniken, nur sie bestimmen das Spiel. Man kann die Musik und das Instrument einfach nicht voneinander trennen. Vielmehr sollte man das Instrument so einsetzen, wie es ist – auf die gleiche Weise, wie man mit dem Gedächtnis, dem Geschmack, den Vorurteilen und den Gewohnheiten umgeht.«

Bailey hat mit allen gespielt, mit der gesamten Großfamilie der Improvisatoren; mit dem Saxofonisten Evan Parker und dem Schlagzeuger Tony Oxley hat er 1970 auch ein Label gegründet, Incus, das er alleine bis heute fortführt. In den neunziger Jahren arbeitete er zum Entsetzen der Improvisationsinnung auch mit Punk- und Rockmusikern und immer wieder mit Drum’n’Bass-DJs zusammen. In seiner Londoner Nachbarschaft waren einige Piratensender stationiert, die Drum’n’Bass spielten, Bailey empfing durch Zufall die Radio Sessions und war begeistert. »Das ist Musik, die im Fluss ist«, sagte er 1997. »Die DJs machen immer weiter, fixieren nichts, lassen die Musik nicht gerinnen. Es ist nichts, was vorher ausgeklügelt wurde und was altehrwürdigen Ritualen folgt. Things are pretty loose, man kümmert sich nicht allzu sehr darum, was passieren wird.« Auch das macht er klar: Improvisation ist an kein Genre und keinen Stil gebunden. Es ist eine Frage der Entscheidung – eine ebenso profane wie dissidente.

Am vergangenen Samstag hat Derek Bailey seinen 75. Geburtstag gefeiert.