Bloß nicht nach Kreuzberg

Für die 20jährige Türkin Semra bedeutet das Frauenhaus Bora in Berlin vorläufig ihre Rettung. von silke kettelhake

Seit ihrem 16. Lebensjahr haben 40 Prozent der Frauen in Deutschland körperliche oder sexuelle Gewalt erleben müssen. Unter den türkischen Frauen in Deutschland wird jede zweite ein Opfer von Gewalt. Bei allen sind es meist die Partner oder Ehemänner, die zuschlagen. Zu diesem Ergebnis kam Ende des vorigen Jahres eine Studie des Bundesfamilienministeriums.

Semra, 20, Türkin mit deutschem Pass, lebt seit fast zwei Monaten im Frauenhaus Bora, irgendwo an der Peripherie Berlins. Unruhig wandern ihre Augen umher. Der Besuch einer türkischen Imbissstube scheint ihr nicht zu behagen. An jeder Ecke arbeiten Männer, sitzen beim Cay, essen Döner Kebap. Ihre Worte kommen stoßweise, als wolle sie sie am liebsten herausschreien.

»Früher hat er nur unsere Mutter geschlagen, mit festen Gegenständen«, sagt Semra. Als sie zehn Jahre alt war, begann mit der Scheidung der Eltern für sie und ihren Bruder die Hölle. Vater und Großvater, aber auch die neue Stiefmutter attackierten die Geschwister mit Holzstücken, mit den Schuhen, dem Bügeleisen. Am schlimmsten waren die Stromstöße. »›Ich schlag dich tot!‹, hat mein Vater immer wieder gesagt.«

Anfang Dezember schlug der Großvater immer wieder auf ihren Kopf ein, das Trommelfell platzte. Im Krankenhaus erfuhr sie von der Möglichkeit, im Frauenhaus anonym und sicher unterzukommen. »Nachdem die Wunde genäht war, bin ich mit der Polizei nach Hause gefahren, hab’ ein paar Schuhe zum Wechseln, zwei Hosen, vier Pullover und Unterwäsche geholt, sonst nichts«, erzählt Semra. »Mein Vater sagte zu mir: ›Wenn du aus der Wohnung gehst, bis du für uns tot. Ruf’ uns nie wieder an.‹ Ich habe sehr geweint, aber niemand ist auf mich zugekommen.«

In der Regel brauchen Frauen mehrere Anläufe, um sich aus einer Gewaltbeziehung zu befreien. Die Koordinatorin häusliche Gewalt der Berliner Polizei, Tanja Engel, berichtet: »Jeder Polizeieinsatz, jeder Kontakt mit einer Beratungsstelle kann die Trennung beschleunigen. Türkische und arabische Frauen wissen meistens nicht, dass es die BIG-Telefon-Hotline gibt, sie wissen nicht, dass die Wachen 24 Stunden geöffnet sind.«

Semra sagt: »Ich hatte immer Hoffnung, dass es besser wird, dass sich mein Vater und mein Großvater ändern. Jetzt können sie mich bitten, aber jetzt ist Schluss. Alles, das ganze Leben haben sie mir kaputt gemacht.« Normalerweise wiegt sie etwa 60 Kilogramm. Im Moment sind es nur 48, und ihr ist immer kalt.

Die Koordinatorin im Frauenhaus Bora, Pari Teimoori, berichtet: »Es gibt Frauen, die es allein nicht schaffen und zurück zu ihren Männern gehen. Wenn die Frauen kommen, sind sie am Boden zerstört. In dem Moment sind sie sich nicht bewusst, wie stark sie sind und was sie wagen.« Wenn Semra vom Frauenhaus spricht, lächelt sie: »Hier habe ich Ruhe, höre nicht mehr die Stimme meines Vaters. Das macht mich schon total glücklich.«

Unter den Augen hat sie tiefe gelbliche Ränder. Die Schule durfte sie nur bis zur neunten Klasse besuchen, anschließend fuhr sie jeden Morgen von Kreuzberg nach Pankow, acht Stunden Bügeln pro Tag. Und dann dieser Sommer vor vier Jahren. Sie war gerade 16 Jahre alt und wurde mit einem Cousin zwangsverheiratet, irgendwo in einer Kleinstadt am Schwarzen Meer. Semra erinnert sich: »Auf den Fotos lächle ich kein einziges Mal. Eine Woche nach unserer Hochzeit hat er angefangen, mich zu schlagen. Das Leben in der Türkei als Ehefrau sah so aus: Kochen, Saubermachen, mein Mann ging spazieren, und ich musste auf seine Eltern aufpassen. Die Bilder von meiner Hochzeit habe ich weggeschmissen. Niemand denkt daran: Ich bin jung, ich will mein Leben leben!«

»Jede Zwangsverheiratung beginnt mit einer Vergewaltigung«, sagt Tanja Engel. »Da sind zwei Partner, die kennen sich nicht oder lieben sich nicht. Erzwungene Sexualität mit 15 oder 16 Jahren erleben zu müssen, das ist grausam.« Sie ist seit 23 Jahren bei der Polizei, aber einen Täter, der sich entschuldigte, hat sie noch nie erlebt: »Die Männer entwickeln eine einfache Strategie: Ich bin nicht schuld, die Verletzungen hat sie sich selbst zugezogen. Oder: Hätte sie mich nicht provoziert, wäre das gar nicht passiert.«

Semra fühlt sich einerseits als Türkin, andererseits ist es ihr sehr wichtig, in Deutschland zu leben, mit der deutschen Staatsbürgerschaft: »Zu Hause, da hieß es, wir sind Gläubige, wir sind gute Menschen. Ich durfte überhaupt nichts. Du musst Kopftuch tragen, du musst beten, du musst putzen. Immer nur Vorwürfe, nie ein Lob. Die Männer dürfen rausgehen, in die Kneipe, und wir Frauen müssen zu Hause hocken. Wir sind in Deutschland, da kann jeder frei entscheiden, wie er oder sie leben möchte. Zu Hause war Krieg.«

Für die junge Frau stehen jetzt ganz praktische Schritte auf der Tagesordnung. Jeder einzelne ist schwer genug zu gehen: »Eine kleine Wohnung wünsche ich mir. Auf jeden Fall nicht in Kreuzberg, denn da wohnt meine Familie.« Pari Teimoori sagt: »Unbürokratische schnelle Hilfe ist überlebenswichtig, damit die Frauen nicht von der ehelichen Gemeinschaft, vom Partner oder sonstigen Familienangehörigen abhängig sind. Nicht, dass sie finanziell auch noch bestraft werden, weil sie einfach weggegangen sind.« Auch bei Hartz IV ist immer noch von Bedarfsgemeinschaften die Rede.

Teimoori fährt fort: »Wenn das Paar ein gemeinsames Konto führt, dann muss das Konto gesperrt werden. Oft genug hat der Mann das Geld abgehoben.« Sie seufzt. »Gemeinsame Mietverträge sind sehr kompliziert. Schnell häufen sich die Mietschulden, wenn der Mann einfach nicht mehr die Wohnung zahlt. Und die Frauen bekommen eine Meldung bei der Schufa. Seit zwei Jahren ist es so, dass bei Abschluss eines neuen Mietvertrages ein Nachweis über Nichtverschulden vorliegen muss – was bei vielen Frauen nicht der Fall ist. Das ist rechtlich alles sehr problematisch.«

Oberkommissarin Tanja Engel kennt die sich gleichenden Biographien: »Jede Frau, die von Gewalt betroffen ist im häuslichen Bereich, empfindet ähnlich, unabhängig vom sozialen Hintergrund oder der Herkunft: Häusliche Gewalt gibt es auch in der Upper Class. Aber da greift die soziale Kontrolle oft nicht. Im eigenen Haus, da kann man schon mal Krach machen. Die Frauen aus gut situierten Haushalten sind genauso abhängig wie schlechter gestellte Frauen. Sich bewusst zu machen, dass etwas schief läuft und dass die Frau als Opfer keine Schuld hat, das ist ein sehr harter Prozess.«

Semra bläst sich die Haare aus der Stirn: »Manchmal besuche ich meine Freundinnen. Dann nehme ich die S-Bahn bis Neukölln, bloß nicht über Kreuzberg fahren. Meinen Freundinnen geht es total gut, sie sagen jedenfalls, dass sie glücklich sind. Aber ich glaube es ihnen nicht. Wer mit einem türkischen Mann verheiratet ist, der kann nicht glücklich werden. Ich kann es nicht. Ich verliere dabei mein Leben. Zwar kann ich wieder lachen, aber von meinem Herzen kommt das nicht. Türkische Männer schlagen ihre Frauen. Das ist nun einmal so.« Wie auch andere Männer zuschlagen.

Notruftelefon des Frauenhauses Bora:

030 - 986 43 32; www.kindernotdienst.de, www.big-hotline.de