Ich, das sind andere

Vera Broido beschreibt ihr Leben. von birgit schmidt

Im Gegensatz zu Männern haben Frauen die Neigung, sich nicht über die eigene Leistung, sondern über soziale Beziehungen zu definieren: Frau von …, Schwester von …, geschlafen mit …, das reicht in der Regel auch für eine Autobiografie, eine weibliche, versteht sich. Und auch Vera Broidos Buch »Tochter der Revolution« fällt aus diesem Schema nicht heraus: Sie wurde in Großbritannien aufgestöbert als Ehefrau des berühmten Historikers Norman Cohn; eine zwangsläufige Erwähnung findet die jahrelange ménage à trois mit dem Dadaisten Raoul Hausmann und dessen Ehefrau, und sie war die Tochter der menschewistischen Revolutionäre Eva und Mark Broido. Dass das Titelbild des Buchs ein Ausschnitt aus einem Aktfoto ist, das Hausmann von ihr gemacht hat, obwohl eine gelungenere Porträtaufnahme ganz offensichtlich existiert – diese befindet sich im Buch –, zementiert den männlichen Blick und die weibliche Rollenbeschränkung.

Vera Broido selbst fehlt auf eine merkwürdige Art und Weise in ihrer Autobiografie, obwohl sie ja durchgängig von sich und ihrem Leben erzählt, aber immer in Beziehung zu anderen. Sie schreibt, wie man es von ihr erwartet hat, als Zeitzeugin eben, die sich selbst zurücknimmt und die sympathisch-bescheiden über sich selbst konstatiert, dass sie zwar bei der bekannten russischen Malerin Alexandra Exter in Paris studiert habe, aber selber nicht über genügend Talent verfügte, um eine Karriere als Malerin anzustreben. Ansonsten erfährt man recht wenig über sie. Hat sie die politischen Überzeugungen ihrer Eltern geteilt? Wie erlebte sie als Jüdin die nationalsozialistische Machtergreifung 1933 in Berlin? Und dass einige kritische Worte über Raoul Hausmann fallen, ist allein Burkhard Müller-Ullrich zu verdanken, der das Vorwort geschrieben hat, ganz offensichtlich auch das Bedürfnis nach einigen klarstellenden Worten verspürte und also über Hausmann und Broido schreibt: »›Er glaubte an die freie Liebe, aber die freie Liebe war immer für den Mann, nicht für die Frauen‹, fasste Vera den Fall aus 66 Jahren Abstand zusammen.«

Wer sich jedoch weniger für die Person Vera Broido, sondern mehr für die Geschichte interessiert, die sie zu erzählen hat, für den hat das Buch einiges zu bieten. Es ist insbesondere deshalb von Interesse, weil es die Geschichte von Revolutionären und Verbannung, und auch die der russischen Revolutionen (1905 und 1917) ausnahmsweise einmal nicht aus der Perspektive der damaligen Sieger, also der Bolschewiki, erzählt, sondern aus der der Menschewiki. Mark und Eva Broido blieben dem menschewistischen Flügel der Partei auch dann noch treu, als er von den ehemaligen Genossen blutig verfolgt wurde. Eva Broido war gar entschlossen genug, um im Jahr 1927 als menschewistische Kurierin illegal in die UdSSR zu reisen. Sie kehrte niemals zurück. Ihre Tochter Vera, die als Jüdin 1934 aus Berlin nach Großbritannien hatte fliehen müssen, erfuhr erst nach dem Zweiten Weltkrieg, was mit ihr geschehen war, und konstatiert betont distanziert: »Damals wurde enthüllt, dass Mutter 1940 von einem Militärtribunal zum Tode verurteilt worden war. Während eines erneuten Prozesses war sie dann zu 15 Jahren Haft im Gefängnis von Orel und schließlich in einem dritten Prozess wieder zum Tode verurteilt worden. Sie wurde am 14. September 1941 erschossen.«

Auch den Schrecken der Ereignisse – die Verfolgung der nicht-bolschewistischen Revolutionäre, die ausufernde Bürokratisierung in der jungen Sowjetunion, die Leiden und Entbehrungen wegen des Bürgerkriegs – beschreibt sie eher indirekt, aus der Perspektive des Kindes, das sie damals war. Das ist ein anderes Problem: Erinnerungen, also Autobiografien, sind niemals authentisch. Erinnerungen an die Kindheit sind es noch viel weniger, und Vera Broido schrieb die ihrigen, als sie bereits über 90 Jahre alt war, und stützte sich dabei auf ihre Aufzeichnungen aus dem Jahr 1930. Doch das liegt in der Natur der Sache: Vera Broido, 1907 geboren und 2004 gestorben, war einer der letzten Menschen, die die russische Oktoberrevolution noch erlebt haben, daher ist »Tochter der Revolution« möglicherweise der letzte Zeitzeugenbericht über dieses Ereignis überhaupt.

Vera Broido: Tochter der Revolution. Edition Nautilus, Hamburg 2004, 192 S., 19,90 Euro