Wir sind die Libanesen

Beirut nach dem Anschlag auf Rafik Hariri. von hannah wettig

Zwei katholische Nonnen warten im Vorhof der großen Moschee am Märtyrerplatz in Beirut. In der Hand halten sie Rosen, die sie am Grab des Ermordeten ablegen wollen. Dahinter steht eine Gruppe junger Leute mit roten Fahnen, Mitglieder der Progressiven Sozialisten. Auf der Straße vor der Moschee stehen die Menschen um ein am Boden liegendes 30 Meter langes Papiertransparent. In großen Buchstaben steht »Unabhängigkeit« darauf, daneben sind Sprüche wie »Syrien raus!«, »Fuck you, Bashar al-Assad!« und weitere Beschimpfungen des syrischen Präsidenten gekritzelt.

Zwei Tage nach der Beerdigung des früheren libanesischen Premierministers Rafik Hariri und einen Tag nach der großen Demonstration gegen die syrische Besatzung versammeln sich noch immer hunderte Trauernde vor der Moschee, die nur »die große Moschee, die Hariri gebaut hat«, heißt. Auf Hariri-Plakaten, die an Bauzäunen hängen, und dem Papiertransparent auf der Straße hinterlassen viele ihre Kondolenzen und politische Statements. Die meisten davon beschuldigen Syrien des Mordes an Hariri.

Die 18jährige Lara al-Ghoul schreibt kniend in eine noch freie Ecke des Transparents einen Gruß. »Er war unsere Zukunft«, notiert sie. »Für unsere Generation bedeutete er Hoffnung. Solidere steht für Solidarität.«

Vor dem Attentat am 14. Februar haben wenige so geredet, schon gar nicht über Solidere, die Immobilienfirma, die die gesamte Innenstadt Beiruts wieder aufgebaut hat. Im Gegenteil, bis eine Bombe Hariris Autokonvoi am Montag der vergangenen Woche in die Luft sprengte, galt die Firma als bestes Beispiel für die Skrupellosigkeit, mit der sich libanesische Politiker bereichern. Um die Stadt möglichst schnell wiederaufzubauen, wurden alle enteignet, die Immobilien in der zerbombten Innenstadt besaßen. Ihr Eigentum wurde Solidere überschrieben; die Firma gehört zu großen Teilen Hariris Familie. Die früheren Eigentümer erhielten Aktienanteile, die wenig wert waren.

Viele machten Hariri auch für die Auslandsschulden verantwortlich, die sich auf 35 Milliarden Dollar belaufen. Ein großer Teil dieser Summe geht auf Kredite zurück, die das Land für den Wiederaufbau aufnehmen musste. Und Hariri war einer der wenigen, die Geldgeber überzeugen und Investoren ins Land holen konnten.

Nach seinem Tod fürchten viele, dass der Libanon in eine wirtschaftliche Krise gerät. »Hariris Familie sollte die Leute dazu aufrufen, ihr Geld nicht von ihren libanesischen Konten ins Ausland zu überweisen«, sagt Omar Nahdawi. Der 50jährige Palästinenser ist gerade mit seiner englischen Frau Hilda aus dem Urlaub im Jemen zurückgekehrt. Gemeinsam stehen sie an der Absperrung vor dem dreieinhalb Meter tiefen Krater, den die Bombe in die Straße gerissen hat.

Abends versammeln sich hier hunderte Demonstranten mit Kerzen und fordern das Ende der syrischen Einmischung in die libanesische Politik sowie den Abzug der 15 000 syrischen Soldaten, die nach Ende des Bürgerkriegs im Libanon verblieben sind. Doch tagsüber dominieren die Schaulustigen. Auch die Nahdawis haben ihre Videokamera mitgebracht und filmen die zerbrochenen Fensterscheiben des Phoenicia Intercontinental Hotels. Der Tatort, meint Omar Nahdawi, deute darauf, dass es die Syrer waren. »Hier ist einer der wenigen Orte in Beirut, wo nicht viele Leute unterwegs sind. Al-Qaida hätte keine Skrupel gehabt, ihn direkt in der Innenstadt in die Luft zu jagen.«

Hilda Nahdawi sieht das etwas anders. So wenige Leute seien hier gar nicht, wenn man die ganzen Gäste in ihren Hotelzimmern zähle, die von ihren Fensterscheiben hätten erschlagen werden können, gibt sie zu bedenken. »Außerdem ist das hier ein symbolträchtiger Ort.«

Das Hotelviertel neben dem Jachthafen bildete 1976 die Kulisse für eine der berüchtigtsten Schlachten des Bürgerkriegs. Vor dem Krieg war das St. George Hotel, vor dessen Ruine nun die Bombe explodiert ist, ein Treffpunkt der Beiruter Schickeria. Das gegenüberliegende Intercontinental Hotel hat nicht den gleichen Flair, doch teuer ist es auch.

Die bislang einzige heiße Spur führt tatsächlich zu den Islamisten. Nach dem Attentat bekannte sich eine zuvor unbekannte, angebliche Untergruppe von al-Qaida namens »Sieg und Jihad in der Levante« zu dem Mord. In einem Video, das der arabische Satellitensender al-Jazeera ausstrahlte, trat ein in Beirut lebender Palästinenser namens Ahmed Abu al-Ads auf, der den Behörden wegen Kleindelikten bekannt ist. Während zu Anfang selbst die Beiruter Behörden das Video mit Skepsis beäugten, heißt es nun, dass zwölf Islamisten kurz nach dem Attentat nach Australien entkommen seien.

Wegen seines Reichtums und Einflusses sowie seines guten Verhältnisses zu den USA und der saudischen Herrscherfamilie könnte Hariri zum Angriffsziel für Islamisten geworden sein. Auf keinen Fall galt er als besonders frommer Sunnit, obwohl er am Märtyrerplatz die größte Moschee des Libanon bauen ließ.

Unter den Beirutern war diese Moschee, in der er nun begraben wurde, umstritten. Sie ist mindestens sechsmal so groß wie die christlich-maronitische Kirche daneben und steht an der früheren grünen Linie, der Grenze zwischen dem christlichen Osten und dem muslimischen Westen Beiruts. Nicht nur Christen schimpften darüber. Viele fanden, dass Hariri damit unnötig provozierte.

Doch jetzt steht auf dem Papiertransparent: »Wir werden dein Projekt von einem gemeinsamen Libanon vollenden. Du kanntest keine Muslime und Christen, sondern nur Libanesen.« In einem Brief an die englischsprachige Beiruter Tageszeitung Daily Star vergleicht ein Leser den Toten gar mit Mutter Teresa, Mahatma Gandhi und George Washington.

Viele dieser Lobesworte kommen nicht einmal von Hariris Anhängern. Auch Lara al-Ghoul ist keine seiner Unterstützerinnen. Die junge Schiitin sieht sich nicht einmal als Teil der Opposition. »Alle meine Freunde sind anderer Meinung, aber ich bin überzeugt, dass es nicht Syrien war«, sagt sie. »Es können nicht die Syrer gewesen sein. Man sieht doch: Jetzt sind alle gegen sie. Wenn sie es waren, dann sind sie blöd.« Sie ist überzeugt, dass die Leute glauben wollen, dass es Syrien war und deshalb nicht nachdenken. »Aber nicht sehen wollen, ist gefährlich«, sagt sie.

Die Anhänger der Opposition und mit ihnen viele andere wollen über das Thema gar nicht erst diskutieren. »Ist es nicht offensichtlich?« stand groß auf einem Transparent der Demonstration. »Sie waren es, weil das ihr Stil ist, weil sie alle umbringen, die gegen sie sind«, sagt Fadi Khoury. Er ist Christ und sympathisiert mit der Freien Patriotischen Bewegung. Die von maronitischen Christen dominierte Partei hat sich dem libanesischen Nationalismus verschrieben. Sie demonstriert bereits seit Ende des Bürgerkriegs für den Rückzug der Syrer. Bis vor einem halben Jahr stand sie mit ihrer Ablehnung Syriens ziemlich allein da. Nur die ebenfalls christlich-nationalistischen Libanesischen Kräfte demonstrierten manchmal mit.

Heute umfasst die Opposition fast alle Konfessionen und ein großes Spektrum politischer Ideologien. Auf der Linken stehen der Drusenführer Walid Jumblatt mit seiner Progressiven Sozialistischen Partei sowie die Neue Demokratische Linke, in der sich viele versammeln, die wegen undogmatischer Ideen aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurden. Hariris Anhänger hingegen standen für die kapitalistische Variante des arabischen Nationalismus. Doch sie sind erst seit kurzem in der Opposition.

Als Hariri im Oktober zurücktrat, glaubten ihm viele die rebellische Pose nicht. In seinen zwölf Amtsjahren war er zwar nie ein besonderer Liebling der Syrer gewesen wie der jetzige Präsident, Emile Lahoud. Doch als Gegner der syrischen Besatzung hätte Hariri sicher nicht so lange im Amt bleiben können. Seit dem Bürgerkrieg waren alle libanesischen Regierungen pro-syrisch. Auch trat Hariri, im Gegensatz zu den drusischen Ministern aus der Progressiven Sozialistischen Partei, keineswegs aus Protest gegen die Mandatsverlängerung des Präsidenten zurück. Sein Rücktritt folgte erst einen Monat später, als ihm klar wurde, dass die Syrer Lahoud so viel Macht einräumen würden, dass ihm selbst wenig blieb. Sein Rücktritt sollte ein Druckmittel sein. Er wollte spätestens nach den Parlamentswahlen im Mai wieder Premierminister werden. Zuvor musste er den Syrern verdeutlichen, dass er sich nicht alles gefallen lassen würde. Andere Oppositionelle hatten ihn wegen seiner weichen Haltung gerügt.

Erst in den vergangenen zwei Wochen wurde Hariris Tonfall härter, nachdem die Regierung das neue Wahlgesetz vorgelegt hatte, das eine Neuordnung der Wahlkreise vorsah. Hariris Partei hätte, ebenso wie andere Oppositionsparteien, mit dem neuen Gesetz etwa die Hälfte ihrer bisherigen Parlamentssitze verlieren können. Vor allem wegen rseine internationalen Bekanntheit avancierte er plötzlich zur wichtigsten Figur in der Opposition neben Jumblatt.

Er war vor allem für sein gutes Verhältnis zum Westen bekannt, der französische Präsident Jacques Chirac war sein persönlicher Freund. Bei ihm hatte er erst kürzlich vorgesprochen und ihn davon überzeugt, dass die Hisbollah nicht auf die Liste terroristischer Organisationen gehört. Wie fast alle Libanesen sah Hariri die Aktionen der Hisbollah als legitimen Widerstand gegen Israel. Diese Überzeugungsleistung gegenüber Frankreich und der EU hätten wohl nur die wenigsten Libanesen zustande bringen können.

Auch deshalb verwundert es, dass kaum jemand auf die Idee kommt, Israel könnte den früheren Premierminister und rund ein Dutzend weitere Personen in die Luft gesprengt haben. Hariris Kontakte waren Israel ein Dorn im Auge. Zudem wird der derzeitige Druck auf Syrien der israelischen Regierung ebenso Recht sein wie der US-amerikanischen. Neben dem syrischen hat auch der israelische Geheimdienst mehrfach Attentate auf libanesischem Boden verübt, während des Bürgerkriegs bis 1990, aber auch in der Zeit danach. Doch während man die Israelis üblicherweise selbst für leckende Wasserleitungen und Schlaglöcher verantwortlich macht, scheint es nun, als werde seit einer Woche der südliche Nachbar nur von der Regierung, der Hisbollah und den Taxifahrern erwähnt.

Von den Taxifahrern glauben erstaunlich viele nicht an die Schuld Syriens. »Ich bin überzeugt, dass die Amerikaner den Mossad geschickt haben, damit sie die Syrer endlich angreifen können«, erläutert einer am ersten Trauertag, während er an geschlossenen Ladenzeilen vorbeifährt. In den sunnitischen Stadtteilen ist während der ersten beiden Tage nach Hariris Tod alles geschlossen. Hariris Anhänger fuhren selbst durch die großen Straßen der christlichen Viertel. Mit Knüppeln zertrümmerten sie das Mobiliar der Läden und Restaurants, die die Trauer nicht achteten.

Als religiös-ethnische Gewalt fasste das jedoch niemand auf. Aus rassistischen Gründen hingegen kam es zu Übergriffen auf syrische Arbeiter. Rund eine halbe Million syrische Arbeitsmigranten leben in Libanon.

Die Opposition demonstriert nationale Einheit. Die Differenzen der Bürgerkriegsjahre sind beigelegt. Am Märtyrerplatz wird allabendlich eine Tribüne aufgebaut. Hunderte versammeln sich davor, um die Reden oppositioneller Politiker zu hören. Doch es sind eher Parolen, die dort ausgegeben werden. »Wir sind Muslime, Christen, Drusen. Wir sind die Libanesen.« Ein anderer ruft zur »Intifada für die Unabhängigkeit und gegen Syrien« auf; die Masse skandiert: »Syrien raus!«

An den Kundgebungen beteiligen sich Sunniten, Christen und Drusen. Schiitische Parteien sind nicht dabei. Etwa die Partei von Parlamentssprecher Nabih Berri. Er hat sich im vergangenen September nicht an der syrischen Einmischung in die Präsidentschaftswahlen gestört und verblieb in der Regierung. Ebenso wird die Hisbollah ihren Unterstützern in Damaskus nicht den Rücken kehren.

Hier liege potenzieller Sprengstoff, erläutert Ghassan Mokaram auf einer politischen Veranstaltung in dem Kulturzentrum Zicco. Eine neu gegründete Internationale Sozialistische Gruppe hat zu einer Diskussionsrunde zum Tod Hariris eingeladen. Gekommen sind aber kaum mehr als ein Dutzend Interessierter. »Viele Gruppen sind noch wie im Krieg organisiert und können ihre Waffen schnell wieder herausholen«, sagt Mokaram. »Das gilt für Jumblatts Leute wie für die Nasseristen, die Syrischen Nationalisten und natürlich die Hisbollah.«

Die ärmsten Schichten der Bevölkerung, die Schiiten, fehlten bei der antisyrischen Demonstration am Freitag. »Die Frauen waren alle geschminkt und sehr höflich«, meint ein Teilnehmer. Anders als auf der Beerdigung am Mittwoch trugen nur wenige Frauen ein Kopftuch. Ein Zeichen, das hier die eher wohlhabenden Leute protestiert haben.

Die Gründer der Internationalen Sozialistischen Gruppe meinen, dass man der allgemeinen Stimmung etwas entgegensetzen müsse, und das nicht nur, weil die Amerikaner gerade dabei seien, ihre Nahost-Initiative nach dem Irak im Libanon fortzusetzen. Täglich erhöhen George W. Bush und seine Außenministerin Condoleezza Rice den Druck auf Damaskus. Zwar wisse man nicht, wer hinter dem Attentat stecke, aber Syrien müsse trotzdem seine Truppen abziehen. Der Libanon habe nach dem Bürgerkrieg nur für eine Übergangszeit unter syrischer Besatzung bleiben sollen, um die Sicherheit des Landes zu garantieren. Das Attentat auf Hariri aber zeige, dass die Syrer nicht für Sicherheit sorgten, argumentieren die USA.

Doch größere Angst als eine Pax Americana bereitet den Internationalen Sozialisten, dass die Opposition außer Rand und Band zu geraten scheint. »Mich haben sie als pro-syrisch beschimpft, bloß weil wir diese Diskussionsveranstaltung einberufen haben«, sagt Mokaram. Dabei hat er bereits zu einer Zeit den Abzug der Syrer gefordert, als dies bei vielen Oppositionellen noch als proamerikanische Haltung verschrieen war. »Die Opposition sagt: Ihr seid entweder mit uns, oder ihr seid mit den Syrern. Sie selbst diskutieren das Thema nicht einmal untereinander.« Auch die Rhetorik sei gefährlich, sagt er. »Sie reden wie während des Krieges, als gebe es gar keine Regierung mehr. Jumblatt hat gesagt, alle Tabus sind gebrochen, das heißt, alles ist jetzt möglich.«

Aber auch die Rhetorik der Regierung erinnert an die Tage der Milizenführer. »Wir werden sie fertigmachen, bevor sie uns fertigmachen können«, sagte Premierminister Omar Karami vor laufender Kamera über die Opposition nach dem Attentat auf Hariri. Und nicht nur die Oppositionellen ignorieren die Regierung. Der französische Präsident Jacques Chirac lehnte jeden offiziellen Empfang ab, als er zur Trauerfeier anreiste. Hariris Familie hatte sich verbeten, dass Mitglieder der Regierung an der Beerdigung teilnehmen.

Zu der Diskussionsveranstaltung sind auch zwei Mitglieder der Kommunistischen Partei gekommen. Die KP gehört traditionell zur Opposition, ist aber nicht anti-syrisch. Nun versucht sie zu vermitteln. Erst vor drei Wochen war eine Delegation in Damaskus. Doch in dieser Situation, sagen die beiden Vertreter, müsse man abwarten. Nicht einmal eine Erklärung wollen sie herausgeben. Auch sie haben Angst.

Draußen vor dem Kulturzentrum fährt ein Konvoi junger Progressiver Sozialisten vorbei, ihre Fahnen schwenken sie aus den Wagen wie nach einem Fußballspiel. Das könnte fröhlich aussehen. Doch wer sie sieht, weiß auch, dass es Tote geben könnte, wenn die Syrer sich in die Wahlen im Mai einmischen.