Kehren vor der Haustür

Vertreter der armenischen Minderheit in der Türkei halten wenig davon, dass die Frage des EU-Beitritts mit ihren Anliegen verbunden wird. von sabine küper-büsch, istanbul

Hrant Dink lehnt sich amüsiert in seinem Stuhl zurück. Vor ihm liegt die neue Ausgabe von Agos, der Zeitung der armenischen Minderheit in der Türkei, deren Chefredakteur er ist. »Sehen Sie, die Zeitung ist auf Türkisch und Armenisch geschrieben«, sagt er schmunzelnd. »Nicht weil es verboten wäre, nur auf Armenisch zu veröffentlichen. Nein, nein. Wir wollen nur, dass alle Menschen in der Türkei unsere Zeitung lesen können.«

Im Aufmacher dieser Ausgabe von Agos wird gefragt, warum der Paragraph 305 aus den Druckausgaben des türkischen Strafgesetzbuches noch nicht getilgt ist, der die Thematisierung der Armenierfrage mit hohen Gefängnisstrafen ahndete. Auf Drängen der EU hat die Türkei das umstrittene Gesetz bei der umfassenden Strafrechtsreform im vergangenen Jahr gestrichen. Aber aus den Gesetzestexten ist es bislang noch nicht verschwunden. Dinks breites Grinsen verrät, was er von der Gesetzesänderung hält. Gegen ihn und andere verantwortliche Redakteure von Agos laufen Verfahren wegen unterschiedlicher Beschuldigungen, die in der Türkei immer noch verdeckte Zensurmechanismen darstellen. Separatismus, Verunglimpfung des Militärs und Volksverhetzung sind Delikte, die inzwischen nicht automatisch Gefängnisstrafen nach sich ziehen. Aber sich häufende Geldstrafen haben schon einige oppositionelle Zeitungen in die Knie oder die Chefredakteure ins Ausland gezwungen.

Straffällig wird man schnell. Gegen den renommierten Schriftsteller Orhan Pamuk läuft derzeit ein Verfahren, weil er in einem Interview mit dem Schweizer Tagesanzeiger erklärte, als türkischer Staatsbürger müsse er das Recht haben, zu sagen, dass im Osmanischen Reich eine Million Armenier umgebracht worden seien.

Die daraus erwachsene Kontroverse innerhalb der türkischen Öffentlichkeit, die eine Kampagne verschiedener Menschenrechtsvereine gegen die spontanen, aber üblichen »Vaterlandsverräter«-Pamphlete auslöste, zeigt, dass die Politisierung von Tabuthemen inzwischen zumindest ihre Enttabuisierung in der öffentlichen Diskussion nach sich zieht. »Ich bin zuversichtlich«, meint Dink ironisch. »Da sich die EU so inbrünstig der Armenierfrage annimmt, werden diese Probleme sicher bald verschwinden.«

Der Inhalt seiner Zeitung reflektiert eine ganz andere Realität. Intellektuelle unterschiedlicher Lager beschäftigen sich derzeit vor allem mit der Schwäche der Zivilgesellschaft. Die EU wird als wichtiger Verstärker angesehen, aber in vielen Äußerungen wird die Sorge offensichtlich, dass der Bevormundung durch den türkischen Staat eine Dominierung durch bislang undurchschaubare europäische Instanzen folgen könnte. Die Intellektuellen um Agos empfinden etwa die Aktivitäten der europäischen Diaspora-Armenier, vor allem der französischen Community, als sehr kontraproduktiv. Für sie reflektiert das Beharren auf der »Lösung der Armenierfrage« vor dem Beginn von Beitrittsverhandlungen mehr die antitürkische Front in Frankreich als die Interessen der Armenier.

Das gilt auch für die Initiative der deutschen Christdemokraten. In einem Antrag der Union vom 22. Februar heißt es, am 24. April 1915 »wurde auf Befehl der das Osmanische Reich lenkenden jungtürkischen Bewegung die armenische politische und kulturelle Elite Istanbuls verhaftet und ins Landesinnere verschleppt, wo deren größter Teil ermordet wurde«. Den Deportationen seien 1,2 bis 1,5 Millionen Armenier zum Opfer gefallen. Die Republik Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs bestreite bis heute, dass diese Vorgänge geplant und die verübten Massaker gewollt gewesen seien. Gleichzeitig steht in dem Papier der CDU, dass »der in diese Vorgänge neben dem Osmanischen Reich am tiefsten involvierte Staat« das Deutsche Reich war. Scheinheilig heißt es weiter, im Gegensatz zur Turkei würden sich die Staaten der EU zu den »dunklen Seiten« ihrer nationalen Geschichte bekennen. Die deutsche Regierung wird aufgefordert, mit Blick auf den türkischen EU-Beitritt alles zu tun, damit Ankara seine Haltung ändere.

Das Deutsche Reich tat nichts, um der Ermordung der armenischen Bevölkerung, die sich vor den Augen zahlreicher deutscher Repräsentanten 1915/16 in Kleinasien abspielte, wirksam entgegenzutreten. Die Waffenbrüderschaft war viel wichtiger. Beim Völkermord an den Hereros in Südwestafrika hatten die deutschen Truppen vielmehr bereits zehn Jahre früher eine osmanische Militärstrategie genutzt und das Mobilisierungsinstrument »heiliger Krieg« eingesetzt, um ihre sudanesischen Söldner dazu zu bewegen, zehntausende Hereros zum Verdursten in die Wüste zu treiben. »Der Unterschied zu Deutschland besteht allerdings darin, dass dort offen über all diese Dinge geredet und geschrieben werden kann«, merkt Dink an.

Über den Vorwurf des türkischen Botschafters Mehmet Ali Irtemcelik, die CDU/CSU- Fraktion mache »sich zum Sprecher des fanatischen armenischen Nationalismus«, der sich »gegen die territoriale Integrität der Türkei richte und auf der ganzen Welt mit organisiertem Terror« vorgehe, kann Dink nur müde lächeln. Diesen Teil der Geschichte kennt die armenische Gemeinde in der Türkei nur zu gut. Niemand ist der Politik der diplomatischen Kanonenschüsse so müde wie sie.

Seit dieser Woche referieren im türkischen Parlament unterschiedliche Experten zum Thema »Genozid an den Armeniern«. Erster Redner soll Yusuf Halacoglu sein, der Direktor der Türkischen Historischen Gesellschaft. Er verbreitet die offizielle türkische Version: Es gab keinen Völkermord, sondern beiderseitige Kampfhandlungen und Pogrome in Anatolien am Rande des Ersten Weltkrieges. In den folgenden Tagen werden den Parlamentariern aber auch andere Sichtweisen dargelegt werden, etwa die Ergebnisse einer Studie der unabhängigen »Historischen Stiftung«, die sich damit beschäftigt, wie Propaganda in Schulbüchern das Geschichtsbild beeinflusst.

36 Prozent der Schüler glauben, dass der Türke des Türken einziger wirklicher Freund ist, und 34 Prozent, dass die in der Türkei lebenden Griechen, Juden und Armenier dem Vaterland schaden würden, falls sie Gelegenheit dazu hätten. Kein Wunder, steht doch in Büchern wie »Bu Yol« (Der Weg), die vom türkischen Erziehungsministerium herausgegeben werden, dass die Armenier im ersten Weltkrieg den Türken verräterisch in den Rücken gefallen seien. Eine einseitige Darstellung, die vor allem die Zwangsdeportation Hunderttausender Armenier aus den türkischen Metropolen verschweigt, die nichts mit dem Vormarsch russischer Truppen in Anatolien zu tun hatten.

Das Gezerre um die offizielle Anerkennung der Tatsache, dass es einen Genozid gab, ist allerdings nicht das einzige Problem der Armenier in der Türkei. Die Tabuisierung des Themas erschwert die Publikationsfreiheit, Besitzrechte sind ungeklärt, und auf dem Landweg ist die Grenze zwischen Armenien und der Türkei geschlossen. Die armenische Gemeinde bemüht sich derzeit um die Einrichtung eines Radiosenders in armenischer Sprache. »Deshalb wollen wir Teil Europas sein«, erklärt Dink zum Abschied, »damit wir alle etwas von der Demokratisierung des Landes haben.«