Antifa heißt Hartz IV

Das Volk war korrumpiert, die Shoah ein rationaler Massenraubmord, der Nationalsozialismus ein räuberischer Sozialismus, sagt Götz Aly in seinem Buch »Hitlers Volksstaat«. deniz yücel stellt es vor

Die Story ist vielleicht überzeichnet, aber sie ist gut, und Götz Aly erzählt sie oft, auch bei der Vorstellung seines Buches »Hitlers Volksstaat« in der vorigen Woche in Berlin: Während der Auseinandersetzung um die Entschädigung der einstigen Zwangsarbeiter habe er als Redakteur der Berliner Zeitung mehrfach darauf hingewiesen, dass der deutsche Staat und die deutsche Bevölkerung weit mehr von der Zwangsarbeit profitierten hätten als die Industrie. Zum Beispiel, schrieb er einmal, hätten die deutschen Rentenkassen von der Zwangsarbeit profitiert, weshalb die Rentner eine Zeitlang drei Prozent ihrer Rente an den Entschädigungsfonds zahlen sollten. Die mehrheitlich im Osten Berlins lebende Leserschaft habe prompt reagiert. »Am nächsten Tag erlebten die Sekretärinnen und die Leserbriefredaktion den Aufstand der neudeutschen Volksgemeinschaft. Da habe ich mir gedacht: Na wartet!«

Alys Antwort, die nicht nur mit den ostdeutschen Rentnern abrechnet, die stets »das Kapital« verdächtigen, liegt nunmehr vor. Am Erscheinungstag wurde das Buch in den »Tagesthemen« der ARD vorgestellt, binnen einer Woche war die erste Auflage ausverkauft. Diese Resonanz entspricht der Selbsteinschätzung des Autors, der glaubt, dass sich »in den kommenden zehn Jahren das Bild des Nationalsozialismus« dank seiner Arbeit »verändern dürfte«.

Aly will die Gewissheiten stören, die in der Bundesrepublik, der DDR und in Österreich die Auseinadersetzung mit der NS-Vergangenheit geprägt hätten. Ob die Schuld auf den »angeblich charismatischen Führer« projiziert werde, auf die Rassenideologie oder auf Konzernherren, Militärs und »Killereinheiten« – gemeinsam sei diesen »Abwehrstrategien«, dass sie der »jeweiligen Mehrheitsbevölkerung eine ungestörte Gegenwart und ein ruhiges Gewissen« verschafften. Demgegnüber unterstreicht Aly, dass 95 Prozent der Deutschen aus dem Nationalsozialismus Nutzen gezogen hätten. Und er entdeckt im Sozialstaat ein Erbe der nationalsozialistischen Politik.

Im Mittelpunkt seiner Studie stehen die Fragen: Wie konnte das Naziregime die Loyalität der deutschen Bevölkerung sichern und Stabilität im Innern erreichen? Wie finanzierte Nazideutschland seinen Krieg? Gab es einen Zusammenhang zwischen der Herrschaftssicherung, dem Krieg und der Vernichtung der europäischen Juden? Und: Wie revolutionär, wie sozialistisch war der Nationalsozialismus?

Das NS-Regime begreift Aly primär nicht als terroristisches und unterstreicht, ebenso wie Daniel J. Goldhagen, seine Massenbasis. Doch für Aly resultierte diese Zustimmung nicht aus ideologischen Gründen, vielmehr errichteten die Nazis eine »Gefälligkeitsdiktatur«, in der sie die Loyalität der Volksgenossen mit handfesten Argumenten sichern mussten: »Hitler, die Gauleiter der NSDAP, ein Gutteil der Minister, Staatssekretäre und Berater agierten als klassische Stimmungspolitiker. Sie fragten sich fast stündlich, wie sie die allgemeine Zufriedenheit sicherstellen und verbessern könnten. Sie erkauften sich den öffentlichen Zuspruch oder wenigstens die Gleichgültigkeit jeden Tag neu.«

Diese These belegt er mit den sozialpolitischen Maßnahmen, die heute so vertraut wirken: Die Steuerklassen I bis IV mitsamt Ehegattensplitting und steuerlicher Entlastung von Familien mit Kindern entstammen jener Zeit, ebenso die Kilometerpauschale, die Eigenheimzulage, das Kindergeld, die Krankenversicherung für Rentner, die steuerfreien Zulagen für Schichtarbeit und einiges mehr.

Gleichzeitig habe der Nationalsozialismus ein »bis dahin nicht gekanntes Maß an Gleichheit und sozialer Aufwärtsmobilisierung« geschaffen. Die junge neue Führungselite habe Deutschen aus den Unterschichten Karrierechancen eröffnet. Beispielhaft für das Bündnis aus alter und neuer Elite gilt Aly das Führungsduo des Reichfinanzministeriums: der Minister, ein Vertreter der preußischen Aristokratie, der Staatssekretär, ein junger Mann aus kleinen Verhältnissen. Aus dem »an sie adressierten völkischen Gleichheitsversprechen« habe der Nationalsozialismus für Millionen Deutsche seine Attraktivität bezogen.

Doch die »Steuerhärten gegen die Bourgeoisie«, die Aly nachzuweisen versucht und der »Steuermilde für die Massen« gegenüberstellt, ist nur ein Teil der makroökonomischen Gesamtrechung. Dass die Schulden des Staates ebenso wie die Ausgaben für Rüstung, Infrastruktur usw. anderswo, etwa bei Banken und Betrieben, auf der Einnahmenseite verbucht wurden, bleibt unerwähnt, ebenso der Umstand, dass die – gerne: erbeuteten – Sparanlagen der Deutschen mit der Währungsreform von 1948 getilgt wurden, die im Krieg erzielten und reinvestierten Unternehmensgewinne aber verschont blieben.

Diese Auslassung hat System. »Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen«, schließt Aly, ein Aperçu, mit dem er schon seine Aufsatzsammlung »Rasse und Klasse« (2003) beendet hat. Diese Variation des Horkheimerschen Diktums, dass vom Faschismus schweigen solle, wer nicht vom Kapitalismus reden wolle, ist sicher richtig. Das Problem ist, dass Aly gar nicht mehr vom Kapitalismus spricht.

Dafür betont er, dass auch nach Beginn des Krieges die staatliche Fürsorge sich nicht vermindert habe. Die Nazis hätten vor dem Hintergrund der ersten Weltkriegserfahrung penibel darauf geachtet, die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten und die Kriegskosten nicht auf sie abzuwälzen. Stattdessen sei der Krieg durch das in ganz Europa enteignete jüdische Vermögen sowie durch die Beiträge finanziert worden, die besetzten Länder abgepresst wurden.

So schlüssig Aly den fürsorglichen Charakter des nationalsozialistischen Staates für die Deutschen nachweist, impliziert diese Analyse eine weitere fragwürdige Annahme: Nämlich dass die Volksgenossen die Nazis wohl fortgejagt hätten, hätten diese nicht »fast stündlich« für Gefälligkeiten gesorgt. Mit der These von der Massenkorruption ließe sich vielleicht erklären, warum etwa Saul K. Padover, der als Propagandaoffizier der US-Armee in den bereits eroberten Teilen Deutschlands die Volksgenossen interviewte, überall auf triefendes Selbstmitleid stieß, aber kaum auf ideologischen Furor. Nicht erklären lässt sich damit, warum die Deutschen noch zu ihrem Führer hielten, als sich der Nationalsozialismus als unvorteilhaftes Unterfangen erwies.

Die fiskal- und sozialpolitischen Maßnahmen der Nazis wurden ebenso wie die staatlich organisierte Vollbeschäftigung und das Rüstungsprogramm mit Krediten finanziert. Zur Deckung des Defizits wurde bis zum Krieg nur die Körperschaftssteuer erhöht und das Vermögen der Juden schrittweise konfisziert und schließlich enteignet. Hier findet sich, um mit Ernst Nolte zu sprechen, der von Aly konstatierte »kausale Nexus« zwischen der Volksgemeinschaft und der Shoah. So habe die maßlose Haushaltspolitik im September 1938 zu einer tiefen Krise der Staatsfinanzen geführt. Der drohende Bankrott habe nur durch die »Judenbuße« verhindert werden können, die dem Novembergpogrom folgte und den jüdischen Deutschen eine Milliarde Reichsmark abpresste.

Auf den Zusammenhang der leeren Kassen mit der Shoah weist Aly immer wieder hin. Die Deportation der Juden aus Rhodos im Sommer 1944 etwa erscheint ihm als Versuch, den Versorgungsmangel der Besatzungssoldaten zu beheben. Warum die fast isolierten deutschen Soldaten auf Rhodos nicht wie fast jede versprengte Truppe der Weltgeschichte sich das nahmen, was sie brauchten, sondern zielsicher die Juden fanden, um sie zu enteignen und die enteigneten Vermögenswerte bei der griechischen Bevölkerung gegen Nahrungsmittel einzutauschen, warum sie die Juden obendrein nach Auschwitz deportierten, vermag diese Deutung nicht zu erklären.

Doch genau darum geht es Aly: »Der Holocaust bleibt unverstanden, sofern er nicht als der konsequenteste Massenraubmord der Geschichte analysiert wird.« Seine These von der Rationalität des Massenmords, die er bereits Ende der achtziger Jahre zusammen mit Susanne Heim vertreten hat, findet damit ihren Höhepunkt.

In dieser Form materialistischer Geschichtsschreibung bleibt Ideologie ein den materiellen Verhältnissen äußerliches Element, der Zusammenhang zwischen Volksgemeinschaft und Antisemitismus bleibt ausgeblendet; die Vernichtung erscheint nur noch als Mittel, die Enteignung als eigentlicher Zweck. Man könnte dies, wie Volker Ullrich in der Zeit, dahingehend deuten, Goldhagen werde »vom Kopf auf die Füße gestellt«. Doch der These vom »eliminatorischen Antisemitismus« widerspricht Aly ausdrücklich: »Es gab keinen deutschen Sonderweg, der sich in eine plausible Beziehung zu Auschwitz setzen ließe.«

Eine mögliche Konsequenz aus dieser Analyse, die im Buch allenfalls angedeutet bleibt, hat Aly Anfang September, auf dem Höhepunkt der Proteste gegen Hartz IV, in der Süddeutschen ausgesprochen: »Die Regierung Schröder/Fischer steht vor der historischen Aufgabe des langen Abschieds von der Volksgemeinschaft.« Seitdem hütet er sich jedoch davor, diese Aussage zu wiederholen. »Ich will nicht die Idee der sozialen Gerechtigkeit diskreditieren«, sagte er der taz und ergänzte in Berlin: »Den Sozialstaat hätte man auch auf dem französischen oder schwedischen Weg verwirklichen können.«

Dieser Hinweis auf die in allen kapitalistischen Zentren nach 1929 sukzessive etablierte keynesianisch-korporatistische Regulation, die nur hierzulande zeitweise mit einem völkischen Wahn einherging und, wie Adorno bemerkte, in der Sozialpartnerschaft der Nachkriegszeit ihre Fortsetzung fand, zugleich aber einer Notwendigkeit der Kapitalakkumulation folgte, wird gegen manchen Rezensenten Alys verfolgt werden müssen. Gegen Peter Richter etwa, der in der FAZ notierte: »Die Härten, die man nicht zumuten könne, und die Grenzen der Belastbarkeit, die allmählich erreicht seien – all diese Argumentationsbausteine jeder politischen Fernsehdiskussion verlieren deutlich an Unschuld nach der Lektüre von ›Hitlers Volksstaat‹«.

Götz Aly: »Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus«. S. Fischer, Frankfurt/M. 2005, 448 S., 22,90 Euro