Der plötzliche Aufstand

Der kirgisische Präsident Askar Akajew musste nach Unruhen in der Hauptstadt fliehen. Doch die siegreiche Opposition ist gespalten. von ute weinmann

Einen Namen erhielt der Aufstand in Kirgisien schnell. Nach der »samtenen Revolution« in Georgien und der »orangen Revolution« in der Ukraine ist es diesmal die Tulpe, die zum Symbol des Machtwechsels in Kirgisien erklärt wird.

Gerade in diesem Staat mit seinen für Zentralasien vergleichsweise demokratischen Verhältnissen hatte kaum jemand ernst zu nehmende Aktivitäten der Opposition erwartet. Ende Februar fand im Land der erste Durchgang der Parlamentswahlen statt, bei denen erwartungsgemäß präsidententreue Parteien die absolute Mehrheit erringen konnten. Nach Ansicht von Wahlbeobachtern der OSZE hielt sich der Wahlbetrug in erträglichen Grenzen. Lediglich in der Kreisstadt Uzgen im Süden des Landes erlaubten sich unzufriedene Anhänger eines recht populären oppositionellen Kandidaten nach Verkündung von dessen Niederlage die Stürmung eines Wahllokals. Die Stimmenzählung brachte das gewünschte Ergebnis hervor, und alle gaben sich zunächst damit zufrieden.

Doch noch vor dem zweiten Wahldurchgang am 13. März begannen im Süden Protestkundgebungen, und es entstand eine Koalition von Vertretern oppositioneller Parteien. In Osch und Dshalal-Abad im Süden erfolgten erste Besetzungen von Regierungsgebäuden, bis die Unruhen am 23. März die Hauptstadt Bischkek erreichten.

Nur einen Tag später wurde die sensationelle Nachricht verkündet: Präsident Askar Akajew habe klammheimlich mit seiner Familie die Flucht in das Nachbarland Kasachstan ergriffen. Am Samstag hieß es, er halte sich in Moskau auf. Viele Kirgisen nutzten die Gelegenheit für Plünderungen vor allem in Bischkek, bevorzugt wurden Waren aus den Supermärkten, die Familienangehörigen des Präsidenten gehören.

Zunächst sah es so aus, als hätte ein schwacher Präsident jede Kontrolle verloren. Doch Akajew, der das Ausmaß der Proteste offenbar zunächst unterschätzt hat, scheint sich nun Chancen auszurechnen, sein Amt zurückzugewinnen oder zumindest eine Position zu erringen, die es ihm gestattet, Macht und Pfründe seiner Familie zu erhalten. Die Opposition ist gespalten, sie hat weder eine populäre Führungsfigur noch ein politisches Programm. Via Internet ließ Akajew am Wochende verbreiten, die Gerüchte über seinen Rücktritt als Präsident seien verlogen und böswillig und seine Abwesenheit sei lediglich vorübergehend.

In Bischkek rivalisierten am Wochenende zwei Parlamente, das neu gewählte, in dem Anhänger Bakajews dominieren, und das alte, dessen Mandat abgelaufen ist, das jedoch nach Akajews Flucht den Oppositionspolitiker Kurmanbek Kabijew zum Interimspräsidenten ernannte. Am Montag wurde das alte Parlament für aufgelöst erklärt, aber die Lage ist weiter unübersichtlich. »Heute haben wir zwei Präsidenten«, erklärte der Sprecher des neuen Parlaments, »in einigen Gebieten drei oder vier Gouverneure und bis zu sechs regionale Führer in den Provinzen.« Am Wochenende sammelten sich zudem Akajews Anhänger in der Umgebung der Hauptstadt.

Viele Oppositionpolitiker sind ehemalige Anhänger Akajews. Der Interimspräsident Kabijew war bis 2002 Premierminister, der wegen Überschreitung seiner Amtsvollmachten zu sieben Jahren Gefängnis verurteilte Felix Kulow war Minister für Staatssicherheit, Roza Otunbajewa fungierte als Vizepremier und Außenministerin, bis sie zurücktrat und fortan als Botschafterin in London und bei der Uno tätig war.

Akajew ist einer der dienstältesten Präsidenten in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Er war fast 15 Jahre im Amt und galt für mittelasiatische Verhältnisse als weiche und konfliktscheue Führungsfigur. Die Opposition wuchs, weil Akajew nach dem Clanprinzip regierte und einzig und allein die Interessen seiner Großfamilie bediente. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre schaltete er aus der Führungsriege des Landes jegliche Konkurrenz aus. Mittlerweile fehlt es ihm schlicht an fähigen Kadern. Die Opposition hat jedoch das Prinzip der Clanpolitik nicht überwunden und besteht aus regionalen Interessengruppen. Fast alle erfahrenen Politiker stammen aus dem Norden des Landes, es ist fraglich, ob sie in der Lage sind, den Süden zu kontrollieren.

Die Lebensbedingungen im bevölkerungsreichen Süden gelten als deutlich schlechter als im Norden. Vor allem innerhalb der recht gut organisierten usbekischen Minderheit, die hauptsächlich im an Usbekistan grenzenden Ferganatal ansässig ist, gibt es islamistische Tendenzen. Die letzten gewaltsamen Unruhen brachen dort 1999 infolge von Übergriffen islamistischer Kämpfer aus Usbekistan aus. Dass Akajew sich gegen einen Einsatz von Waffengewalt entschied, mochte nicht zuletzt mit der Befürchtung zusammenhängen, neuerliche unkontrollierbare Gewaltausbrüche zu provozieren.

Die Ursache der unerwarteten Proteste ist offenkundig die soziale Misere des Landes. Kirgisien zählt zu den ärmsten Ländern in der Region, über die Hälfte der Bevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft, die zu Sowjetzeiten entwickelte Industrie und Infrastruktur befinden sich in einem desolaten Zustand. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Renten sind verschwindend gering, und nach unterschiedlichen Angaben leben bis 60 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

Als erste Republik der ehemaligen Sowjetunion trat Kirgisien 1998 der Welthandelsorganisation WTO bei, allerdings zu extrem ungünstigen Bedingungen und ohne vorherige Absprachen mit seinen Partnern innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion. Dies führte neben der Einrichtung eines US-Militärstützpunktes auch zu erheblichen Missstimmungen bei den Nachbarstaaten. Seit der Unabhängigkeit betreibt Kirgisien die Politik eines von ambitionierten Großmächten umzingelten Kleinstaates und pflegt enge Beziehungen sowohl zu Russland und den USA als auch zu China.

Russland und Kirgisien unterzeichneten im Dezember 2002 ein Sicherheitsabkommen über die gegenseitige Nutzung militärischer Objekte, welches in der russischen Duma kurz vor Ausbruch der Unruhen ratifiziert wurde und nach Versicherungen der Interimsregierung in Bischkek auch weiterhin umgesetzt werden soll. In Kant, 20 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, eröffnete Russland im Oktober 2003 den ersten Militärstützpunkt außerhalb des Landes seit dem Zerfall der Sowjetunion.

Auf den Fall des Verbündeten Akajew reagierte Moskau recht verhalten. Der russische Präsident, Wladimir Putin, betonte seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der neuen Führung, bot zugleich aber auch Akajew Rückhalt an. Es wurden jedoch auch Stimmen laut, die eine militärische Intervention russischer Truppen nicht ausschließen wollten. Die USA hingegen schlugen sich sofort offen auf die Seite der neuen kirgisischen Führung, wiesen gleichzeitig jedoch den Verdacht von sich, die Proteste finanziell unterstützt zu haben.

Allerdings ist es kein Geheimnis, dass neben Förderprogrammen des IWF gerade US-amerikanische Gelder in den vergangenen Jahren einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierung zahlreicher NGO und sogar der kommunalen Selbstverwaltung in Kirgisien geleistet haben. So bildet sich mit der Zeit eine neue Elite heraus, die sich Russland gegenüber nicht mehr so wohlgesonnen verhalten dürfte. Moskau sieht sich einem wachsenden internationalen Druck ausgesetzt, den zu meistern es offenbar einer neuen Strategie bedarf.