Die Autonomie der Städte

Die Buchreihe »metroZones« beschäftigt sich mit der Soziologie urbaner Bewegungen. von sigurd jennerjahn

In Istanbul besetzen aus der Provinz Zugewanderte Land und errichten darauf ihre Häuser. Später werden diese gecekondu genannten Siedlungen von der Stadtverwaltung legalisiert. Zwei Drittel des städtischen Raumes entstehen auf diese Weise. In Lagos kontrollieren area boys, meist Jugendliche, die sich nach ethnischer Zugehörigkeit in Banden zusammenfinden, Straßenzüge. Nicht die Polizei, sondern sie bestimmen dort die Regeln, gewähren Schutz, erheben Abgaben, verhängen Strafen. Oft spielen sie für lokale Politiker die Rolle einer informellen Sicherheitstruppe. In Buenos Aires schließen sich cartoneros, Müllsammler, zu Kooperativen zusammen, um zu verhindern, dass sie von den Zwischenhändlern im Wertstoff-Recycling über den Tisch gezogen werden, und um den Mitgliedern allgemein durch bessere Organisation ein erträglicheres Auskommen zu sichern.

Es sind gesellschaftliche Phänomene wie diese, die in der von Jochen Becker und Stephan Lanz herausgegebenen Publikationsreihe »metroZones« thematisiert werden. Gemeinsam ist den drei willkürlich ausgewählten Beispielen, dass es sich dabei um Praktiken handelt, die sich in der Informalität abspielen. Und genau darum geht es den Herausgebern, um Siedlungsprozesse, die sich unabhängig von den Vorgaben der Stadtplaner vollziehen, um Gewaltordnungen, die sich in Konkurrenz zum staatlichen Gewaltmonopol herausbilden, um Ersatzökonomien, die parallel zu den formalisierten kapitalistischen Wirtschaftskreisläufen entstehen und diese gegebenenfalls ersetzen können. Die Kritik an den Konzepten der good governance, des guten Regierens, und der europäischen Stadt zieht sich dabei wie ein roter Faden durch die Beiträge der bisher erschienenen fünf Bände.

Den Theoretikern des »guten Regierens« wirft man vor, sie würden, indem sie Armut und Gewalt in den Megastädten in erster Linie als das Ergebnis von Standortnachteilen im globalen Wettbewerb und einer mangelhaften Verwaltung darstellen, den wahren Charakter dieser Probleme nur verschleiern. Es werde so getan, als hätten alle Akteure, ungeachtet sozialer und ökonomischer Unterschiede, dasselbe Interesse an einem effizienten und auf Nachhaltigkeit bedachten Krisenmanagement. Dies sei jedoch reine Ideologie. Machtverhältnisse und Interessensgegensätze würden einfach ausgeblendet, und folglich könne daraus keine realistische Beschreibung der Probleme erwachsen.

Es ist fast ein Gemeinplatz, der These, dass der städtische Raum in den Metropolen des Südens zunehmend in ein Patchwork aus Inseln zerfalle – auf der einen Seite die bewachten Wohngebiete der oberen Schichten und die Shopping Malls, auf der anderen Slums, Favelas und ähnliche Marginalsiedlungen –, das Idealbild der europäischen Stadt entgegenzuhalten. Dieser sei es bis zu einem gewissen Grade gelungen, die soziale Integration der unterschiedlichen Klassen zu gewährleisten. Die räumliche Durchmischung und der Austausch zwischen den verschiedenen Milieus hätten zudem für kulturelle Lebendigkeit gesorgt.

Becker und Lanz nun halten die Rede von der europäischen Stadt in doppelter Hinsicht für problematisch. Zum einen werde damit ein Mythos beschworen. Ein derart friedliches Miteinander der Stadtbürger habe es nie gegeben. Im Gegenteil, zu allen Zeiten war es geradezu konstitutiv für die europäischen Städte, dass bestimmte Minderheiten als gefährlich gebrandmarkt und räumlich wie symbolisch aus der Gemeinschaft der Stadtbürger ausgeschlossen wurden. Außerdem – und das sei fataler – werde durch den Rückgriff auf das Modell einer europäischen Stadt ein kolonialistischer Blick reproduziert. Alles, was den Normen dieses Konstrukts nicht genügt, werde als Chaos, als Verfall, als etwas Bedrohliches, als das Andere der europäischen Stadt stigmatisiert. Dabei übersehe man die vielfältigen Organisationsmechanismen, die in dem vermeintlichen Chaos wirksam sind.

Diese aufzudecken und in einer Sprache zu beschreiben, die nicht bloß gängige Klischees bedient, ist das Anliegen der Buchreihe. Der diskursive Raum, in dem man sich dabei bewegt, ist recht komplex. Einerseits gilt es, die Zumutungen eines neokolonialen Blicks zurückzuweisen und der berechtigten Forderung nach Anerkennung Rechnung zu tragen. Auf der anderen Seite darf dies nicht zu einer Romantisierung der Brutalität des städtischen Alltags führen, dazu, dass man die Frage des emanzipatorischen Potenzials einzelner Praktiken aus den Augen verliert. Auch erweisen sich bisweilen einige der kritisierten Konzepte als ziemlich hartnäckig. So schwebt einzelnen Autoren nach wie vor die europäische Stadt als positiver Gegenentwurf zu den analysierten urbanen Realitäten vor.

Hervorgegangen ist die Buchreihe aus dem von der Bundeskulturstiftung geförderten Projekt »Ersatzstadt«. In den Jahren 2002 und 2003 haben die beiden Kuratorenteams, metroZones und Tulip House inc., an der Berliner Volksbühne eine Reihe von Veranstaltungen organisiert. Bislang liegen fünf Titel vor; ein sechster, der sich mit Teheran und Kabul befasst, ist für dieses Jahr angekündigt. Die ersten beiden Bände (»Space// Troubles« und »Learning from*«) kombinieren Texte, die den theoretischen Anspruch des Projekts reflektieren, mit Fallbeispielen aus unterschiedlichen Teilen der Welt. Der dritte (»Hier entsteht«) beschäftigt sich mit Strategien partizipativer Architektur und enthält als Zugabe eine CD-Rom mit filmischen und musikalischen Beiträgen. In »Self Service City: Ystanbul und City of Coop« konzentrieren sich die Beiträge auf die drei Städte Istanbul, Rio de Janeiro und Buenos Aires.

Alle Bände überzeugen durch die hervorragende Kombination von Texten und von Bildmaterial. Die zahlreichen Fotos von den beschriebenen Schauplätzen eröffnen dem Leser eine zusätzliche Dimension. Durch das Aufeinandertreffen ganz unterschiedlicher Textsorten, von Interviews, von Texten mit akademischem Anspruch, von Reiseberichten, von Dokumentationen von Kunstaktionen, von journalistischen Reportagen haftet den Büchern etwas Provisorisches und damit auch etwas sehr Lebendiges an. Fast hat man den Eindruck, die Herausgeber wollten im Aufbau der Werke die dargestellten informellen Strukturen nachvollziehen.

Der zuletzt erschienene Band in der Reihe, »City of Coop«, betrachtet den Zustand der städtischen sozialen Bewegungen in Rio und in Buenos Aires. Und dort wird Hoffnungsvolles entdeckt. Es handelt sich dabei um jene bereits erwähnte Kooperative der Müllsammler, um Fabrikbesetzungen in Argentinien oder um Initiativen, die in den Favelas entstanden sind und versuchen, durch kulturelle Aktivitäten das Bewusstsein der Bewohner für ihre Bürgerrechte zu schärfen. Es sind Berichte aus der Praxis.

Da ist zum Beispiel der Grupo Cultural Afro Reggae. Als Reaktion auf ein 1993 von der Polizei verübtes Massaker in der Favela Vigário Geral hat die Gruppe dort den Versuch gestartet, über die Musik den Jugendlichen eine Alternative zu einer Karriere im Drogenhandel aufzuzeigen. Begleitend dazu veranstaltete sie Workshops über die Bedeutung der afrikanischen kulturellen Einflüsse in Brasilien und über politische Partizipationsmöglichkeiten. Das Projekt war so erfolgreich, dass die Gruppe mittlerweile in vier weiteren Favelas tätig ist, einen Zirkus und weitere Musikbands betreibt. In einem anderen Vorhaben versucht die Stadtverwaltung gemeinsam mit dem Bauhaus Dessau, durch bauliche Eingriffe in der Favela und die Einrichtung eines Kulturzentrums dort den Austausch zwischen dieser und den benachbarten Stadtvierteln anzuregen. Deutlich wird in den Berichten, wie kompliziert es ist, sich zwischen den verschiedenen Interessen von Drogenhändlern, Lokalpolitikern, dem NGO-Establishment und anderen, die gerne Einfluss nehmen, einen Weg zu bahnen. Es wird aber auch deutlich, dass in diesem Feld zwischen den verschiedenen, sich oft sehr ambivalent verhaltenden Akteuren Handlungsspielräume bestehen.

Man kann nur hoffen, dass der in »City of Coop« aufscheinende Optimismus angebracht ist und sich im Rückblick nicht herausstellt, dass er diese neuen Initiativen »hoffnungslos überschätzt«, so wie dies an anderer Stelle für die Sicht brasilianischer Intellektueller auf die in den siebziger Jahren boomenden Bewohnervereinigungen konstatiert wird. In jedem Fall ist zu wünschen, dass »metroZones« den eingeschlagenen Weg fortsetzen und weiterhin Berichte aus der Informalität der Städte liefern wird. Denn die gewählte Perspektive, die Selbstgewissheit des Zentrums zugunsten einer Position aufzugeben, welche den Alltag in den Megastädten des Südens aus der Nähe verfolgt und die auch für Lernprozesse offen ist, scheint allemal interessant.

Stephan Lanz (Hg.): City of Coop. Ersatzökonomien und städtische Bewegungen in Rio de Janeiro und Buenos Aires, metroZones 5, Berlin 2004, b_books

Orhan Esen/Stephan Lanz (Hg.): Self Service City: Ystanbul, metroZones 4, Berlin 2004, b_books

Jesko Fezer/Mathias Heyden (Hg.): Hier entsteht. Strategien partizipativer Architektur und räumlicher Aneignung. metroZones 3, Berlin 2004, b_books

Jochen Becker u.a. (Hg.): Learning from *. Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation, metroZones 2, Berlin 2003 NGBK

Jochen Becker/Stephan Lanz (Hg.): Space//Troubles. Jenseits des Guten Regierens: Schattenglobalisierung, Gewaltkonflikte und städtisches Leben, metroZones 1, Berlin 2003, b_books.

Alle zwischen 14 und 16 Euro