Gefahr des Sozialdumpings

Interview mit dem stellvertretenden Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbunds, reiner hoffmann

In Brüssel haben in der vergangenen Woche über 50 000 Menschen gegen die geplante Dienstleistungsrichtlinie demonstriert. Befindet sich die Gewerkschaftsbewegung im Aufwind?

Auf europäischer Ebene auf jeden Fall. Als Europäischer Gewerkschaftsbund haben wir unter Beweis gestellt, dass Gewerkschaften nach wie vor politikfähig sind. Die Demonstration richtete sich nicht nur gegen die Dienstleistungsrichtlinie, sondern wir haben zum Ausdruck gebracht, welche Vorstellungen wir von einem sozialen Europa haben. Wir als DGB unterstützen den europäischen Verfassungsvertrag, und wir sind auch nicht grundsätzlich gegen einen europäischen Binnenmarkt für Dienstleistungen.

Wie haben Sie die Kollegen aus Osteuropa überzeugt, nach Brüssel zu kommen? Dort verbindet man ja auch die Hoffnungen auf neue Arbeitsplätze mit der Dienstleistungsrichtlinie.

Wir hatten einen langen Diskussionsprozess im Europäischen Gewerkschaftsbund und haben die europäische Einheit frühzeitig vorweggenommen, indem wir seit Anfang der neunziger Jahre mit den Gewerkschaften in Osteuropa zusammengearbeitet haben. Seit 1996 sind diese Gewerkschaften bereits Vollmitglieder bei uns. Das hat dazu geführt, dass wir mehr als nur den kleinsten gemeinsamen Nenner als Grundlage unserer Zusammenarbeit haben. Den Gewerkschaften in Osteuropa ist völlig klar: Wenn wir einen Dienstleistungsmarkt auf der Basis des Herkunftslandsprinzips bekommen, werden sie auf Dauer nicht die Gewinner sein, sondern genauso wie in den alten Mitgliedsstaaten den Gefahren eines Sozialdumpings ausgesetzt sein. Hier ist man weitsichtig genug, auch für diese mittel- und langfristigen Wirkungen.

Wie müsste eine Dienstleistungsrichtlinie aussehen, die Ihnen zusagt?

Auch für Deutschland gibt es im Dienstleistungssektor riesige Wachstumspotenziale. Deshalb sind wir als DGB nicht grundsätzlich gegen den Binnenmarkt. Wir wollen aber nicht, dass wir auf der Grundlage geringer Löhne und geringer sozialer Standards anfangen zu konkurrieren. Dann würden wir nämlich auch langfristig unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht halten. Wir müssen darauf achten, dass wir in Zukunft auf der Basis von hohen Qualifikationen und hoher Qualität von Dienstleistungen, aber eben auch hoher sozialer Standards konkurrieren.

Der Namensgeber der Richtlinie, Frits Bolkestein, hat die nationalistische Ausrichtung der Kritik kritisiert.

Herr Bolkestein argumentiert mit einer ungeheuren Polemik. Meine Kritik an dieser Richtlinie ist, dass sie nicht praxistauglich ist. Da ist mit einer ganz heißen Nadel gestrickt worden, übrigens auch aus der Perspektive der Abnehmer von Dienstleistungen. Unternehmen, die ihre Dienstleistungen in Finnland, Portugal oder Ungarn einkaufen würden, müssten sich dann mit 25 unterschiedlichen Rechtssystemen auseinandersetzen. Das würde den Wettbewerb ganz sicher nicht fördern und auch keine Wachstumsdynamik in Gang setzen. Deshalb sind wir für einen Binnenmarkt, der auf Harmonisierung basiert. Eine Alternative wäre eine Zertifizierung von Dienstleistungen, um die Standards und Normen zu regeln. Wir sind für eine Regulierung, aber für eine bessere Regulierung.

Wir stehen ja mit unserer Kritik nicht allein da. Nicht nur die deutschen mittelständischen Unternehmen haben große Vorbehalte, zum Beispiel hat sich auch der Verband der kleinen und mittelständischen Unternehmen auf europäischer Ebene ganz deutlich gegen diese Richtlinie ausgesprochen. Es geht also wirklich nicht nur um nationale Interessen oder um eine gewerkschaftliche Blockadepolitik, wie uns ständig vorgeworfen wird.

interview: kerstin eschrich