Trocken Brot macht Wangen rot

Polen liegt beim Wirtschaftswachstum in Europa an der Spitze. Bei der Arbeitslosenrate auch. von markus ströhlein

Viele Dörfer sind fast wie ausgestorben. Ältere Menschen versuchen, sich mit der Landwirtschaft über Wasser zu halten. Die Jungen ziehen lieber weg«, sagt Dariusz Tofiluk. Auch er hat es anderswo versucht. Er lebt im nicht gerade an Arbeitsplätzen reichen Berlin. Aber in der deutschen Hauptstadt ist es allemal besser als in der Gegend um Bialystok im Osten Polens, woher er kommt.

Das ländliche Ostpolen ist von der Arbeitslosigkeit besonders stark betroffen. Doch die grassierende Erwerbslosigkeit ist nicht nur ein regionales, sondern ein nationales Problem. Vor zwei Jahren hat Wirtschaftsminister Jerzy Hausner verkündet, dass die Arbeitslosigkeit bis Ende 2004 unter 19 Prozent gehalten werde. Das Planziel hat die Regierung knapp verfehlt. Bereits im Dezember betrug die Arbeitslosenrate 19,1 Prozent, im Januar 2005 stieg sie auf 19,5 Prozent, im Februar blieb sie auf dem gleichen Niveau. Bei allen Schwankungen in der Erwerbslosenquote hält Polen kontinuierlich den Arbeitslosenrekord innerhalb der EU-Staaten.

Ähnlich wie im Osten sieht es in vielen Regionen Polens aus. In Schlesien, dem Zentrum des Bergbaus und der Stahlproduktion zu Zeiten des Realsozialismus, liegt die Arbeitslosenquote konstant bei mehr als 20 Prozent. Die Privatisierung der Bergbau- und Stahlbetriebe im Lauf der neunziger Jahre hat viele den Job gekostet. In ländlichen Regionen sind zwar viele Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt. Jeder fünfte Pole arbeitet in diesem Sektor. Er trägt jedoch nur etwa drei Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Im östlichen Ermland-Masuren sind etwa 30 Prozent der Erwerbsfähigen ohne Job.

»Die Anforderungen der Unternehmer an die Bewerber stehen in keinem Verhältnis zu den Umständen. Man soll jung sein und trotzdem viel Erfahrung haben. Meine Mutter ist 50 und fällt durch dieses Raster«, berichtet Dariusz Tofiluk. »Viele halten sich deshalb mit Schwarzarbeit über Wasser. Das ist besser als nichts.« Denn für die Betroffenen bedeutet Arbeitslosigkeit meist Armut. Ende 2004 erhielten nur 15 Prozent der arbeitslos Gemeldeten Arbeitslosenhilfe. Der Rest ist auf eine Art Sozialhilfe angewiesen. Der Monatssatz von umgerechnet ungefähr zehn Euro ist allerdings lächerlich angesichts der immensen Lebenshaltungskosten. Seit dem EU-Beitritt Polens im Mai 2004 sind die Preise für Lebensmittel stark angestiegen. Die Fleischpreise haben wegen der erhöhten Nachfrage aus anderen EU-Staaten nach günstigerem und dennoch nicht ausschließlich aus Massentierhaltung stammendem Fleisch um ungefähr 20 Prozent angezogen. Das bedeutet vor allem für arbeitslose Menschen, eher Butterbrot statt Schnitzel zu kauen. Und bei einem Preis von umgerechnet 40 Cent wird selbst ein Laib Brot für einen Sozialhilfeempfänger zum Luxus. Die Auswirkungen sind gravierend. 30 Prozent der polnischen Kinder sind nach Informationen des deutschen Fernsehsenders WDR unterernährt.

Nach Angaben der offiziellen staatlichen Statistik ist die Altersgruppe der 18- bis 24jährigen besonders stark von der Arbeitslosigkeit betroffen. Sie stellt ein Viertel der ungefähr drei Millionen Erwerbslosen. Die polnische Szansa-Stiftung entwickelte für diese Problemgruppe das regionale Programm »Station Masuren«. 2004 startete die Stiftung in der Problemregion Masuren die auf Ökotourismus ausgerichtete Initiative. Geplant ist eine größere Zahl an Zentren für Rucksacktouristen im Gebiet der masurischen Seen, das für Wanderer, Radfahrer oder Badebegeisterte zahlreiche Möglichkeiten bietet. Junge Arbeitslose zwischen 18 und 25 Jahren sollen gezielt für Tätigkeiten in den Tourismuszentren ausgebildet werden.

Doch nicht alle polnischen Regionen verfügen über das landschaftliche Potenzial, Urlauber anzulocken. Ein Großteil der Polen sieht keinen schnellen Ausweg aus der Krise. In einer im Februar vom polnischen Meinungsforschungsinstitut CBOS durchgeführten Untersuchung gaben lediglich 28 Prozent der Befragten an, sie sähen die soziale Entwicklung positiv. 60 Prozent der Befragten sahen schwarz.

Goldgräberstimmung herrscht dagegen auf der Seite der Unternehmer. Sie halten den Gute-Laune-Rekord in Europa und beurteilen ihre wirtschaftliche Zukunft nach einer Umfrage Brüsseler Behörden so positiv wie in keinem anderen Land. Die polnische Wirtschaftsbilanz liefert durchaus Anlass für die Freude der Unternehmer. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs 2004 um fünf Prozent, die industrielle Produktion um 13 Prozent. Der polnische Zloty steht derart bombenfest gegenüber dem Euro und dem Dollar, dass sich polnische Exporteure bereits um ihren Absatz sorgen. Der polnische Aktienindex WIG erreichte Mitte Februar den höchsten Stand seit dem 14jährigen Bestehen der Warschauer Börse. In der gleichen Woche veröffentlichten die größten polnischen Betriebe ihre Vorjahresbilanzen. 2004 war ihr bisher erfolgreichstes Geschäftsjahr. Die positiven Bilanzen sowohl der Börse als auch der Unternehmen ließen die Chefredakteurin des Warsaw Business Journal, Eliza Durka, frohlocken: »Deshalb ist es möglich, dass diese Woche in die Annalen der polnischen Wirtschaft als eine historische eingehen wird.«

Doch selbst unserschütterliche Optimisten können die Arbeitslosigkeit nicht ignorieren. Eliza Durka ermahnte die polnischen Unternehmer, ihre Zögerlichkeit bei Investitionen aufzugeben und mit den Gewinnen Arbeitsplätze zu schaffen. Politiker und Wirtschaftsinstitute propagieren dagegen meist eine Vertröstungsstrategie. Erst Wachstum, dann Arbeit, lautet ihr Credo. So sagt das polnische Zentrum für Sozial- und Wirtschaftsstudien bei gleich bleibendem Wachstum für 2006 einen Rückgang der Arbeitslosigkeit auf 17 Prozent voraus. Premierminister Marek Belka sagte kurz nach seinem Amtsantritt im August des vergangenen Jahres: »Wir kämpfen gegen die Arbeitslosigkeit. Selbstverständlich kann man sie nicht besiegen, wenn es keine Bewegung in der Wirtschaft gibt.«

Seliges Vertrauen in den Markt überall? Ob alle Arbeitsmarktprobleme allein durch das Wirtschaftwachstum gelöst werden können, ist bei Wirtschaftsexperten überaus umstritten. »Das Potenzial ist da. Dass es genutzt wird und notwendige Veränderungen schnell kommen, ist fraglich«, konstatierte Katarzyna Pietka vom Zentrum für Sozial- und Wirtschaftsstudien im August 2004 in der Zeit. Eindeutiger formulierte Henryka Bochniarz, die Chefin des Unternehmerverbands PKPP, an gleicher Stelle ihre Bedenken: »Der Preis von wirtschaftlichem Fortschritt und Wachstum ist strukturelle Arbeitslosigkeit.«

Auch das Urteil von Dariusz Tofiluk fällt klar aus: »Es wird sich in Polen so schnell nichts ändern.« Er möchte auf jeden Fall in Berlin bleiben. Denn nach Polen zu gehen, hieße höchstwahrscheinlich, arbeitslos zu sein. Genauso wie drei Millionen andere Polen.