Wahlkampf für die Verfassung

Frankreich gegen Bolkestein von bertold du ryon, paris

Superheld Jacques Chirac setzt sich in Szene: Einmal mehr hat Frankreichs Staatspräsident in der vorigen Wochen einen jener politischen Pseudokonflikte inszeniert, auf die er sich versteht und bei denen er sein ramponiertes Image aufpolieren kann. »Chirac will Brüssel zum Nachgeben zwingen«, titelte der konservative Figaro Mitte voriger Woche martialisch. Schlägt man die Zeitung aber auf, so scheppert die Artikelüberschrift im Blattinneren schon wesentlich leiser: »Chirac kann sein Gesicht wahren.« Am selben Tag tönte der Staatschef in Brüssel, die umstrittene Dienstleistungsrichtlinie der EU sei »für Frankreich wie für andere europäische Partner inakzeptabel«.

Zu diesem Zeitpunkt war es allerdings längst ausgemachte Sache: Der Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel werde eine »Überarbeitung« der »Bolkestein-Richtlinie« beschließen. Das hatte die EU-Kommission sogar schon im Januar entschieden. Der Rest war Theaterdonner und sollte die französischen Wähler dazu animieren, »ihrem« Präsidenten den Rücken zu stärken.

Auch in Brüssel war man besorgt darüber, dass die von Chiracs Amtsvorgänger Valéry Giscard d’Estaing niedergeschriebene »Verfassung« der EU beim bevorstehenden Referendum in Frankreich durchfallen könnte, und ließ Chirac deswegen seinen angeblichen Sieg auskosten. Die Franzosen stimmen am 29. Mai über den Verfassungsvertrag ab, und seit dem vorletzten Wochenende überwiegt bei Umfragen erstmals das »Nein«. Die breite Ablehnung hat unterschiedliche Gründe. Es gibt sowohl bei der politischen Linken wie bei der Rechten je einen Block von Verfassungsgegnern, die sich nicht vermischen und keine gemeinsamen Veranstaltungen betreiben. Rechts und rechtsaußen schürt man hauptsächlich Ressentiments gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU. Und obwohl diese Frage gar nicht zur Abstimmung steht, macht jetzt auch die konservative Regierungspartei UMP eine Kampagne für die EU-Verfassung und zugleich gegen einen türkischen Beitritt.

Links von der (Mehrheits-)Sozialdemokratie dagegen betont man, dass man für einen Beitritt der Türkei sei, wenn sie denn wolle, aber das wirtschaftliche und soziale Modell Europas ablehne, das durch die Verfassung vorgezeichnet sei. Ähnlich liegen die Motive für die Ablehnung der Bolkestein-Richtlinie: Kritik am Sozialdumping, die die Regierung nun aus taktischen Gründen aufgegriffen hat. Auf der anderen Seite, bei den Rechtsextremen, dominiert hingegen der Wunsch nach der »Bevorzugung französischer Arbeitskräfte«.

Kaum einer unter den Verfassungskritikern glaubt, dass das Projekt des Sozialdumpings mit der jetzt beschlossenen Überarbeitung der Richtlinie beerdigt ist. Dieses wird nunmehr im September wieder auf der Tagesordnung stehen, wenn zumindest in Frankreich keine Gefahr mehr für die EU-Verfassung in der Luft liegt. Angekündigt ist, dass lediglich bestimmte Bereiche – namentlich der Gesundheitssektor – aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herausfallen werden, diese selbst droht aber, in ihrem Kern unverändert zu bleiben. Chirac versuchte, in den letzten Tagen diesen bloßen Aufschub zu überspielen: »Eine vollständige Überarbeitung ist für mich mit einem Rückzug identisch«, behauptete er. Die Glaubwürdigkeit dieser Aussage liegt, ebenso wie die der sonstigen Versprechen Chiracs, nahe beim Nullpunkt.