Bildet Ordnerdienste!

In Frankreich wurde die Bildungsreform beschlossen, die Proteste gehen trotzdem weiter. Ebenso die Diskussion über »antiweißen Rassismus«. von bernhard schmid, paris

Die große »Arschtrittmaschine« fährt voraus weg. Der Dachverband der Lehrergewerkschaften hat auf der Ladefläche eines Lastwagens ein riesiges Transparent aufgespannt, das von Heißluftballons in die Höhe gezogen wird. Darauf sieht man einen stilisierten Bildungsminister François Fillon, der von einem Katapult mit der Aufschrift »Nein« einen mächtigen Tritt ins Hinterteil versetzt bekommt und durch die Luft fliegt.

Aber von derlei Aktionen haben sich der Minister und die konservative Regierung unter Jean-Pierre Raffarin auch in den vergangenen Wochen nicht beeindrucken lassen. Fillons Gesetzentwurf, der unter anderem eine Einschränkung des Fächerangebots auf am Arbeitsmarkt relevante »Schlüsselkompetenzen« ermöglicht, wurde am vorletzten Donnerstag verabschiedet.

Obwohl das Gesetz also längst beschlossen ist, zeigt die Protestbewegung in den Schulen kaum Anzeichen von Erlahmung. Zumindest nicht im Großraum Paris, wo am Samstag über 20 000 Menschen demonstrierten. Zu den Schülern am Anfang und den Lehrern am Ende des Demonstrationszuges gesellten sich einige Abordnungen von Studenten und jungen Wissenschaftlern, auch der mehr oder weniger linke Elternverband FCPE war vertreten. Es war die größte regionale Demonstration im Bildungsbereich seit Beginn der Proteste im Januar. Im übrigen Frankreich demonstrierten rund 50 000 Menschen. Dort waren die Zahlen allerdings rückläufig.

Neuen Schwung hat die Bewegung durch die Schulbesetzungen gewonnen, die vor drei Wochen anfingen. Angaben der französischen Presse und der Polizei zufolge waren am Wochenende zwischen 150 und 180 Oberschulen besetzt. Eine der Hochburgen lag in Paris, eine weitere im nördlich an die Hauptstadt grenzenden Trabantenstadtbezirk Seine-Saint-Denis. An beiden Orten haben sich auch Koordinationsgruppen der Besetzer gegründet. Es ist das erste Mal seit den späten siebziger Jahren, dass es zu solchen Aktionen kommt.

Die Besetzungen scheinen dem Aufbegehren der Oberschüler neue Aktionsmöglichkeiten zu verschaffen, nachdem in den letzten Wochen immer weniger Menschen an den Demonstrationen teilnahmen hatten. Erheblich zu dem Abflauen der Bewegung hatte die Pariser Demonstration vom 8. März beigetragen, die von 800 bis 1 000 Jugendlichen aus den Banlieues angegriffen worden war.

Diese Vorfälle haben inzwischen eine heftige Debatte unter den Intellektuellen und in den Medien ausgelöst. Inzwischen kursiert eine Resolution »gegen die antiweißen Rattenjagden«. Dabei ist »Rattenjagd«, ratonnade, ein Begriff, der für die oft tödlichen kollektiven Übergriffe auf Araber während des französischen Algerienkriegs steht. Er suggeriert deshalb eine Art Pogrome gegen Weiße.

Unterschrieben wurde der Aufruf zuerst von Alain Finkielkraut, einem Philosophen und ehemaligen Linken, der sich längst zu einem der lautstarken »antitotalitären« Warner vor linken Ideen und sozialen Bewegungen gewandelt hat. Auch die Proteste gegen den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen im Frühjahr 2002 kritisierte er als Ausdruck eines »kommunistisch inspirierten Antifaschismus«, der sich durch die Masche auszeichne, »die Politik in Gut und Böse einzuteilen«. Den Aufruf unterschrieben haben auch der ehemalige sozialdemokratische Minister Bernard Kouchner sowie der Schriftsteller Pierre-André Taguieff, der bis in die neunziger Jahren zum antirassistischen Milieu gehörte und danach mit diesem brach.

Die Überlegung ist an sich nicht falsch, wonach man die perspektivlose Migrantenjugend in den Trabantenstädten nicht in sozialromantischer Weise verklären dürfe – vor allem dann nicht, wenn sich ihr Frust in einer ganz und gar nicht progressiven Weise entlädt. Die These vom »antiweißen Rassismus« aber, die in der Tageszeitung Le Monde ausführlich debattiert wurde, ist kritikwürdig.

Unter den angegriffenen Demonstranten befinden sich ebenso »farbige« Jugendliche wie unter den Angreifern. Und die Mischung aus subjektivem Opfergefühl, mitunter vorhandenen kommunitaristischen Vorstellungen und dem schlichten Wunsch, Mobiltelefone und Markenklamotten zu rauben oder zu besitzen, lässt sich nicht auf einen einfachen ideologischen Nenner bringen. So zu tun, als handle es sich um Pogrome, ist abwegig. Zumindest für Demonstrationen haben sich Ordnerdienste als hilfreichere Mittel gegen gewalttätige Banden erwiesen als Resolutionen mit grotesken Vergleichen.

Denn der Fehler, der die Überfälle vom 8. März ermöglichte, bestand darin, über keinen strukturierten Orderdienst zu verfügen, der eine Demonstration im Notfall schützen kann. Er wird seitdem nicht wiederholt. Bei den Demos Mitte März stellten die Lehrergewerkschaften, der Gewerkschaftsbund CGT, die Kommunistische Partei und die undogmatischen Trotzkisten zusammen mit den Schülerverbänden einen Orderdienst von mehreren hundert Leuten. Am Samstag bildeten die Oberschüler immerhin einen selbst organisierten Ordnerdienst um den Schülerblock. Aber inzwischen ist auch die Polizei am Rande der Demonstrationen wesentlich präsenter.

Die Besetzungen haben es der Protestbewegung in den letzten Wochen erlaubt, eine drohende Flaute zu überwinden. Doch inzwischen zeigt auch diese Protestform erste Abnutzungserscheinungen.

Die ursprünglich geplante Neuregelung des Zentralabiturs, von der befürchtet wurde, dass damit das Zweiklassensystem der französischen Universitäten auf die Schulen übertragen würde, hat die Regierung zwar zurückgezogen. In allen anderen Punkten aber zeigt sie sich weiterhin unnachgiebig.

Doch nach einer gewissen Zeit benötigt eine Bewegung ein paar Erfolge. Hinzu kommt, dass Anfang Juni im ganzen Land die Abiturprüfungen beginnen, so dass es an einigen Orten bereits zu verbalen Auseinandersetzungen zwischen den Besetzern und Schülern aus den Abschlussklassen gekommen ist. Deswegen wünschten linke Gruppen wie die Comités d’action lycéens, die Aktionskomitees der Oberschüler, den Protest auf die Lehrerschaft und nach Möglichkeit auf andere Berufsgruppen auszuweiten.

Immerhin gibt es Anzeichen dafür. So hat der Gewerkschaftsdachverband der Lehrer sich zumindest zu einer halbherzigen Unterstützung der Schulbesetzungen durchringen können – im Gegensatz zu kleineren »moderaten« Gewerkschaften, die Kritik übten. An einigen Orten, etwa im 11. Pariser Bezirk, kam es am Samstag bereits zu Aktionen von Lehrern. Sie streikten gegen die drohende Streichung vieler Fächerangebote. Ferner sollen im kommenden Herbst im Oberstufenbereich landesweit 7 000 Lehrerstellen verschwinden.

Dass die Mobilisierung trotz aller Schwierigkeiten anhält, ist ungewöhnlich, da die Protestbewegung bereits in ihrem dritten Monat ist. Bildungsminister Fillon will auch weiterhin hart bleiben und erklärte: »In einer Demokratie entscheidet das Parlament.«