»Kommst du aus Überzeugung oder aus Deutschland?«

Deutschsprachige Juden, die nach Israel auswanderten, erzählen ihre Geschichte. von anke schwarzer

Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig. Wir tragen den Zettelkasten mit den Steckbriefen unserer Freunde wie einen Bauchladen vor uns her. Forschungsinstitute bewerben sich um die Wäscherechnungen Verschollener, Museen bewahren die Stichworte unserer Agonie wie Reliquien unter Glas auf. (…) Greift zu, bedient euch. Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig.« Die Worte, die Hans Sahl 1973 in dem Gedicht »Die Letzten« genervt wie mahnend niederschrieb, bilden den Titel eines von Anne Betten und Miryam Du-nour herausgegebenen Buches. Es lässt deutschsprachige Juden zu Wort kommen, die in den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach Palästina bzw. in den 1948 gegründeten Staat Israel auswanderten.

Waren es vor 1933 nur rund 2 000 Männer und Frauen, die die Alija wagten, wie die Einwanderung nach Israel bezeichnet wird, gingen nach Angaben der Herausgeberinnen zwischen 1933 und 1940 mindestens 55 000 nach Palästina. Andere Schätzungen sprechen von 90 000 Menschen. Manche kamen nicht unbedingt wegen einer zionistischen Grundhaltung. Für die meisten war es vielmehr eine Notwendigkeit. »Kommst du aus Überzeugung oder kommst du aus Deutschland?« Das geflügelte Wort jener Jahre lässt ahnen, mit welch zwiespältigen Gefühlen die bereits etablierte jüdische Gemeinschaft die späten Neuankömmlinge aus Deutschland, die »Jeckes«, wie sie halb spöttisch, halb liebevoll genannt werden, empfing. Zudem trafen sie in Israel Menschen aus Polen, Ungarn und Litauen, die »nicht gerade sehr jeckenfreundlich eingestellt« waren, wie Joseph Walk in dem Buch berichtet. Viele Migranten aus Deutschland hatten das Land nicht mehr rechtzeitig verlassen können, konnten aber der Vernichtungsmaschinerie entkommen und emigrierten nach der Befreiung durch die Alliierten ebenfalls in den neuen Staat Israel.

Heute leben nur noch einige Tausend dieser Generation. Mit 150 dieser Einwanderer haben die Herausgeberinnen Interviews geführt. Sie haben sie über ihre Kindheit und Jugend, über ihren Weg zum Zionismus und ihre Entscheidung, nach Palästina zu emigrieren, befragt. Themen waren auch die Vernichtung des jüdischen Lebens in Europa, das Schicksal der Familie und die Aufarbeitung der Vergangenheit. Darüber hinaus drehten sich die Fragen um den Beginn des neuen Lebens und das persönliche Verhältnis zu Deutschland und zur deutschen Sprache.

Das Buch setzt voraus, dass die Leser gründliche Kenntnisse der Geschichte der Juden in Europa und Israel besitzen, da es auf eine historische Einführung verzichtet. Es lebt von den Schilderungen und Einsichten der Befragten. Irritierend wirkt zunächst, dass die Interviews mit den einzelnen Auswanderern nicht in einem Stück präsentiert werden. Sie wurden unterteilt und – nach Themen sortiert – in kleinen Häppchen wieder zusammengestellt. Außer dem Namen und dem Geburtsjahr werden keine Angaben über die befragte Person gemacht. Doch nach und nach setzt sich aus den Fragmenten ein Bild der Interviewten zusammen.

Die bereits zwischen 1989 und 1994 interviewten Männer und Frauen sind nunmehr zwischen 70 und 100 Jahre alt. In den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts kamen sie als Kinder und junge Erwachsene, oft ohne Eltern, nicht selten als einzige Überlebende ihrer Familien, die in Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei, Polen oder Rumänien in der deutsch-jüdischen Kultur verankert waren.

Im Kapitel über das Sprachenproblem berichten sie von ihren Erlebnissen mit der deutschen und hebräischen Kultur in Israel. »Als wir nach Kfar Schmarjahu kamen, war ich entsetzt, wie deutsch dieses Dorf war und dass sie keine Ahnung von hebräischer Kultur hatten. Ich wurde in den Kulturausschuss des Ortes gewählt, und da habe ich gesagt: ›Jetzt ist Schluss mit deutschen Veranstaltungen, jetzt werden wir mal hebräische machen!‹ Ich habe aus Tel Aviv hebräisches Theater und hebräische Vorträge bestellt«, sagt Ayala Laronne, die 1916 in Zwickau geboren wurde und später in Berlin eine hebräische Sprachschule besuchte, bis sie 1933 nach Palästina emigrierte.

Auch wenn manche nach Jahrzehnten noch kein Hebräisch sprechen konnten, nahmen die Deutschsprachigen ganz allmählich an der sich entfaltenden, neuen hebräischen Kultur teil. Viele legten sich einen neuen Namen zu, andere weigerten sich, als Ben Gurion die Devise ausgab, alle Israelis mit einem öffentlichen Posten sollten ihren Namen hebräisieren. Fritz Schwarzbaum hat seinen Namen in Efraim Orni geändert. Seinen ursprünglichen hebräischen Zweitnamen, Israel, habe er verworfen, weil die Nationalsozialisten alle männlichen Juden so nannten, berichtet er. Und aus Schwarzbaum wurde nach einer ausführlichen Beratung mit seiner Ehefrau der Nachname Orni – in Anlehnung an Oren, das hebräische Wort für Kiefer.

Recht pragmatisch ging die Namensänderung bei Hilda Grossmann vonstatten, die sich in dieser Angelegenheit an ihren Lehrer wandte. »Und der hat den Namen genommen, in hebräischer Schrift vor sich hin gelegt, dreimal gekuckt und dann den letzten Buchstaben von Hilda abgestrichen und, statt von rechts nach links, von links nach rechts gelesen. Und daraus ist entstanden Dalia. Und da das dieselben Buchstaben waren, war mein Vater einverstanden«, erzählt Dalia Grossmann, die mit 14 Jahren nach Palästina kam.

Gleichwohl gab es einige Jeckes, die sich lange Zeit als »deutsche Patrioten« verstanden und die auf der Suche nach anderen Jeckes waren, wie Ernst Schwarz, der 1938 nach Palästina reiste, um sich nach einem Ort umzusehen, wo er leben wollte. »Ich wollte einfach ein Jeckendorf finden, in dem wir uns ansiedeln konnten«, erzählt er. »Wir gehen nach Kfar Jedidija! Und wir haben dann im Herbst ’38 eines dieser Reihenhäuser, die die Sochnut (die Einwanderungsbehörde Jewish Agency; d. Red.) dort gebaut hat, bezogen. Mein Bruder hatte vorher alles ausgemessen, und wir haben uns die Möbel in Deutschland angeschafft nach der Größe dieses Hauses. So sind wir dann hierher gekommen im Jahre ’38«, sagt er.

Andere freilich hatten nicht mehr die Möglichkeit, mit den so genannten Transfers, die jüdische Organisationen mit den Nationalsozialisten ausgehandelt hatten, nach Palästina zu kommen. Viel Berichte beschreiben, wie schwierig die Ausreise und die illegale Einwanderung zu organisieren war. Nicht selten sind sie voller Schmerz darüber, dass man Angehörigen nicht mehr helfen konnte oder die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt hatte. Die in Dortmund geborene Helga Lilie ging als junge Frau 1935 nach Palästina, ihre große Familie blieb zurück – alle kamen ums Leben. »Meine Eltern waren noch 1937 bei uns im Land zu Besuch, und dann sind sie zurück, weil sie doch mit dem Haushalt kommen wollten. Und ’38 konnten sie nicht mehr raus. Meine Eltern konnten sich nicht vorstellen, dass man illegal bleibt. Das konnten sich viele geradlinige Jeckes gar nicht vorstellen. Und das war ein großer, großer Fehler, der größte und schlimmste, den wir gemacht haben«, erzählt sie.

Das aufschlussreiche Buch spiegelt die subjektiven Gefühls- und Denkwelten der deutschsprachigen Juden in Israel. Die Aussagen changieren zwischen Sarkasmus, Humor, tiefer Erschütterung und beschwingter Erinnerung. Die Männer und Frauen erzählen Anekdoten, verknüpfen historische Ereignisse wie die Pogromnacht mit ihren persönlichen Erlebnissen und analysieren gesellschaftliche Entwicklungen. Mitglieder der Jüdischen Brigade geben Details preis, Überlebende berichten – sehr verhalten, oft mit betonter Sachlichkeit und Wortkargheit überspielt – einen kleinen Teil des Unfassbaren.

Anne Betten und Miryam Du-nour, die inzwischen verstorben ist, zeigen ein vielschichtiges Bild der Einwanderung in das Land Israel, das Menschen verschiedener Schichten und Herkunftsorte und mit unterschiedlichen Weltanschauungen gestaltet haben. Die Absicht des Buches sei es, so die Herausgeberinnen, den Jeckes ein lebendiges Denkmal zu setzen, das Verstehen und Anteilnahme ermöglicht. Das ist ihnen in großartiger Weise gelungen.

Anne Betten und Miryam Du-nour: Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Gespräche mit den Emigranten der dreißiger Jahre in Israel. Haland & Wirth im Psychosozial-Verlag, Gießen, 2004. 460 S., 24,90 Euro