Zurück zum Beton!

Auf der Kompilation »Berlin Super 80« kann man den Musik- und Film-Underground der Mauerstadt zwischen 1978 und 1984 sehen und hören. von thomas blum

Es war einmal eine Stadt, an deren Existenz vermutlich nur die Älteren unter uns sich noch erinnern können. Die Stadt, von der hier die Rede ist, war ein Ort, den die Welt nicht brauchte, und sie hieß nicht etwa Berlin, sondern Westberlin. Sie war seinerzeit noch nicht die deutsche Hauptstadt, sondern eine im Zweiten Weltkrieg zerschossene Ruine, die an einigen Stellen notdürftig mit Betonbauten geflickt worden war, doch sie war die Hauptstadt der Subversion. Anders als alle anderen deutschen Städte lag sie nicht in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in einem unbekannten Land mit dem lustigen Namen DDR, dem der Grauschleier noch mehr zugesetzt hatte als dem eigenen Land.

In der sonderbaren Stadt, die überdies drolligerweise nicht von den Deutschen, sondern von den Alliierten regiert wurde, gab es keine Sperrstunde, und sie endete plötzlich an einer bunt bemalten Mauer, hinter der das Reich des Bösen sich erstreckte und in deren Schatten ein Haufen Verrückter in verrotteten Mietskasernen wohnte.

Genaugenommen war es nicht einmal eine richtige deutsche Stadt, wie etwa Stuttgart oder Wolfenbüttel, sondern ein Sammelbecken der im Rest der Republik Unerwünschten. Wehrdienstverweigerer, Anarchisten, Homosexuelle und andere Flüchtlinge aus der Provinz trafen sich dort zum Besetzen von Häusern oder ganz einfach zum Stelldichein, um gemeinsam den bevorstehenden Weltuntergang zu erwarten und bis dahin eine entspannte Zeit zu verbringen.

Man schrieb das Jahr 1979, und die wenigen Menschen, die das Wort »Wiedervereinigung« verwendeten, waren bemitleidenswerte Wirrköpfe und wurden ausgelacht. Oder sie waren in der Seniorenvereinigung der CDU.

Es war eine Zeit, in der in Schöneberg noch Hausbesetzer, Linksextremisten und frei schweifende Dandys lebten und nicht nur Zahnärzte, Bioladenbesitzer und Kunsthändler. Obskure und höchst sonderbare, heute längst verblichene Lokale gab es dort, in Schöneberg und Kreuzberg, das Ex’n’Pop, das Café Mitropa (das heute Café M heißt und mit dem alten Ort nichts mehr zu tun hat) sowie einen geheimnisumwobenen Ort namens Risiko (»Risiko für alle«), in den man eintrat wie in eine Parallelwelt: In die ewige Nacht ging man hinein, auf die nie endende Party begab man sich. Denn am nächsten Tag könnte es schon zu spät zum Feiern sein. So mancher soll gar im Risiko verschwunden und niemals wieder herausgekommen sein, so geht die Legende.

Zu jener unfassbar lange zurückliegenden Zeit, in der ein hochgradig lächerlicher Pfälzer noch Oppositionsführer war und Joseph Fischers Spaßpartei noch gar nicht existierte, war man sich in Westberlin vor allem darüber einig, dass die Invasion des Russen, der Weltkrieg, der Atomtod und ähnliche unschöne Ereignisse unmittelbar bevorstanden, und entsprechend verhielt man sich auch. Man hatte die Erfahrung gemacht, dass die deutsche Sozialdemokratie, an deren Spitze sich ein ehemaliger Wehrmachtsleutnant befand, eine recht robuste Politik zu betreiben imstande war. Die drei großen S hießen Stammheim, Startbahn-West und Stadtguerilla.

In Großbritannien und den USA waren zwei finstere Ultrareaktionäre, Mrs. Thatcher und Mr. Reagan, gerade an die Macht gekommen, der Rüstungswettlauf lief auf Hochtouren, also konnte es auch hierzulande nicht mehr allzu lange dauern, bis der Faschismus kam. Schließlich war Franz Josef Strauß bereits zum Kanzlerkandidaten der CDU/CSU bestimmt worden.

Die 68er hatten offensichtlich nicht allzu viel erreicht bzw. Familien gegründet, und bald würden sie strickend im Parlament sitzen. Deshalb hatte man, zumindest in Berlin, beschlossen, den ganzen sinnlosen Hippiescheißdreck mitsamt seiner Sentimentalität zu Grabe zu tragen, und mit ein bisschen Verspätung hatte man aus Großbritannien den Punk und einen ebenso heiteren wie nihilistischen Neodadaismus (Die tödliche Doris, Geniale Dilletanten, Frieder Butzmann) importiert. Niemals wieder war der dissidente Umgang mit den Symbolen und Zeichen des herrschenden Falschen so verspielt und produktiv wie damals. Frieder Butzmann erklärt: »Jede Äußerung und jede Veröffentlichung hatte mehrfach widersprüchlich zu sein. Und somit erfüllten Leute, die mit kommunistischen oder nazistischen Zeichen kokettierten, um im Gegenteil eine antifaschistische Äußerung zu manifestieren, genau diese Bedingung.«

Eine andere neue Strategie des Kampfes gegen das System, die man sich ausgedacht hatte, hieß: exzessives Nachtleben. Man kleidete sich in Schwarz, nahm die dazu passenden Drogen und feierte sowohl die Tristesse des Daseins als auch sich selbst, denn etwas anderes gab es nicht mehr zu feiern. Bald war ja eh Schluss. »We became nocturnal creatures: dressed in black, cool, pale, untouchable«, sagt der Filmemacher und Zeitzeuge Rolf Wolkenstein.

Von dieser famosen Zeit und ihren künstlerischen Hervorbringungen berichtet uns »Berlin Super 80«, eine liebevoll gemachte Kompilation, bestehend aus einer CD, einer DVD und einem dazugehörigen, recht schmalen Begleitbuch, die von Kulturarchäologen zusammengestellt worden ist, um der Nachwelt den Berliner Musik- und Film-Underground zwischen 1978 und 1984 zu dokumentieren.

Und da gibt es wahrlich einiges: Super-8-Homemovies, teilweise von einer abstrusen Kaputtness, teilweise von destruktiv-radikalem Humor, so beispielsweise in dem Kurzfilm »Hammer und Sichel«, in dem der Protagonist, begleitet von fies verzerrten und brutal verhackstückten Liedern der Arbeiterbewegung, den Stiel eines Hammers fellationiert und sich eine Sichel zwischen die Pobacken klemmt. Das war wohl alles andere als sozialistischer Realismus.

»It wasn’t about perfection, but – just like the music scene – about the imperfect, the spirited. It was about transporting a way of life: fast, spontaneous, independent«, erklärt Wolkenstein. »Zurück zum Beton!« lautete ein Motto der Zeit.

Ein heute einschlägig bekannter Herr namens Blixa Bargeld war noch nicht der Handlungsreisende des deutschen Goethe-Instituts, sondern stellte damals unter dem Namen »Einstürzende Neubauten« eine Endzeitstimmungscombo zusammen, die etwas Akustisches veranstaltete, das mit dem, was man zu jener Zeit als Musik zu bezeichnen gewohnt war, nur noch entfernt zu tun hatte, und Malaria! erfand den deutschen New Wave (»Unser Glaube ist unser Geld / Unser Glaube ist unsere Welt«).

Hie und da findet sich anderes Possierliches, das den Geist der Zeit angemessen vermittelt: »Bananen, Zitronen, in der Eck’n steht a Bua / Bananen, Zitronen, a Maderl kommt dazu / Bananen, Zitronen, sie gehen in ein Haus / Bananen, Zitronen, und zieh’n sich nackert aus / Halli-Halli-Hallo, und finden sich ganz nett / Halli-Halli-Hallo, und legen sich ins Bett / Halli-Halli-Hallo, und vögeln um die Wett’. Hallo.« (Valie Export & Monsti Wiener)

Derlei ist zweifelsohne ganz charmant, ansonsten aber hatten der kalte, minimalistische Synthesizer und der ebenso hingebungsvoll wie spontan gemachte Lärm die Macht übernommen, und wenn ein schneidendes Gitarrenriff zu hören war, musste es verstimmt und krank klingen. Ja, überhaupt hat man in der Musik noch in stilvoller Weise Wert auf gepflegte schlechte Laune gelegt. Böse und kaputt war die Welt, und nicht weniger böse und kaputt wollte man selbst sein, denn der Feind war auch die allgegenwärtige Lüge, die der Persilmann und die Politiker, die genauso aussahen wie er, im Fernsehen verbreiteten. Die heile Welt jedenfalls hatte endgültig ausgedient. Romance Adieu, Welcome Decline. Das Mekanik Destrüktiw Komandöh sang dazu: »Berlin! Beton! / Sterbende Stadt!«

Es muss eine schöne Zeit des Untergangs gewesen sein, damals, unterm flackernden Stroboskoplicht, im alten Berlin-West.

CD/DVD/Buch: Berlin Super 80, Music and Film Underground Berlin West 1978–1984. Zu beziehen über: www.monitorpop.de