Glotzt nicht so orientalisch!

Für den arabischen Lyriker Adonis sind Orient und Okzident eine Einheit. von alfred hackensberger

In arabischen Ländern erntet man meist anerkennende Blicke, wenn man sagt, dass man Autor ist. Einige behaupten, diese Wertschätzung des Schriftstellers und seiner Arbeit gehe auf die Fixierung auf das Buch schlechthin zurück, auf den Koran. Andere meinen, es sei die Bewunderung einer Gesellschaft, die eine hohe Analphabetenrate hat. Ich kann mich weder für die eine noch für die andere Thesen begeistern. Im Libanon begegnen auch gebildete Christen dem Schreiberling mit einem bewundernden Lächeln. In Marokko jedenfalls gilt der Mann des Wortes als eine Art Zauberer.

Einen Zauberer der Sprache kann man auch den aus Syrien stammenden Lyriker Adonis nennen. Allein bei der Nennung seines Namens gehen die meisten arabischen Leser ehrfurchtsvoll in die Knie. Tatsächlich hat es der mittlerweile 74jährige vermocht, zwischen westlicher und östlicher Kultur hin und her zu wechseln; sein Werk ist eine gekonnte Mischung aus modernen lyrischen Experimenten, politischer und philosophischer Gesellschaftskritik.

Im Ammann Verlag ist kürzlich »Ein Grab für New York«, der zweite Band einer groß angelegten Werkausgabe mit ausgewählten frühen Gedichten (1965 bis 1971) erschienen. Neben dem Gedichtzyklus, der dem Buch den Namen gab, ist auch das Werk »Das Theater der Spiegel« enthalten.

Für Adonis gibt es keinen Unterschied zwischen Okzident und Orient. »Was immer Politiker oder Ideologen auch sagen mögen, es ist eine einzige Welt, eine Kultur«, sagte der von Nietzsche und Heidegger beeinflusste Schriftsteller vor drei Jahren in einem Interview. Goethes »West-östlicher Diwan« sei orientalischer als man denkt, es gebe keinen Unterschied zwischen dem altarabischen Dichter Abu-Nuwas (757 bis 814) und Baudelaire; Hölderlin und der hispanoarabische Philosoph und Dichter Ibn Arabi seien Seelenverwandte. Teile des Sufismus versteht er als Äquivalent zum Surrealismus. »Es gibt nicht ›den Orient‹, genau wie es nicht ›den Okzident‹ gibt«, behauptete der seit 1986 abwechselnd in Paris und Beirut lebende Autor. »Man muss Kultur in dieser Ambiguität sehen.« Adonis unternimmt den Versuch, gesellschaftliche Mythen, Bilder, Wissensvorräte, die sich auf beiden Seiten über die jeweils andere Kultur angesammelt haben, zu dekonstruieren. Sein Statement richtet sich gegen den »orientalischen« Blick des Westens und gegen das bewundernde Staunen seiner Landsleute über das »moderne« Leben in Europa und den USA.

Von arabischen Dichterkollegen wurde Adonis lange Zeit als »Verräter« an der eigenen Kultur bezeichnet, weil er moderne lyrische Formen benutzt und mit alten arabischen Poesietraditionen gebrochen hat. Im Westen löst seine One-Culture-Theorie heute noch Befremden aus, da er sich gegen gesellschaftliche Erfahrungen und Lernprozesse richtet, die das Fremde mal mehr, mal weniger als etwas Exotisches und Rückständiges erscheinen lassen. Die selbsterklärte Überlegenheit einer modernen, innovativen Kultur, wo der Fortschritt zuhause ist, existiert für Adonis nicht. Er versucht eine poetische Demokratisierung der »Weltklassengesellschaft«. In seinen Gedichten kreiert er einen einzigen, universalen Ort, mit Bestandteilen aus West und Ost.

»Ich bin ein Anhänger der Migration«, sagte er in einem Interview aus dem Jahr 2002. »Ich sehe in der Durchmischung die Zukunft der Menschheit.« Sinnbild dieser kulturellen »Durchmischung« sei für ihn die Stadt New York eine »außergewöhnliche Melange aus Sprachen, Völkern und Kulturen«.

Vor gut 30 Jahren hatte Adonis allerdings noch eine ganz andere Meinung von der US-Metropole. »Ein Grab für New York« betitelte er seinen 1971 entstandenen Gedichtzyklus, der eine Stadt des Untergangs und der Dekadenz zeigt. »New York / eine Zivilisation auf vier Füßen / jede Richtung ein Mord oder ein Weg zum Mord, / und in der Ferne: das Stöhnen Ertrunkener.« In diesen düster-hymnischen Gedichten habe er das Attentat des 11. September »vorausgeahnt«, geradezu »prophezeit«, glauben manche Kritiker. An einer Stelle heißt es: »Zerbröckle, o Freiheitsstatue, o Nägel, die mit einer Kennerschaft in die Brust getrieben sind, welche die Weisheit der Rose nachahmt. Der Wind weht ein zweites Mal aus dem Osten, er entwurzelt die Wolkenkratzer ebenso wie die Zelte.« New York steht als Symbol für die Zerstörungskraft eines alles nivellierenden Materialismus, ein Thema, das bei Adonis immer wiederkehrt. In einem seiner bekanntesten Gedichte, »Das Minarett«, heißt es: »Das Minarett weinte / Als der Fremde kam / Er kaufte es ohne Not / Und baute darauf einen Schlot.«

In Adonis’ Werk, schreibt Stefan Weidner, der die deutsche Übersetzung besorgt hat, »arbeitet er eine Vision der Moderne heraus, die ohne technische Kehrseite auskommt«. Kaum überraschend, dass Adonis ohne Fernsehen lebt, kein Fleisch und kein Fast-Food isst. Mit einer rückwärts gerichteten Anti-Haltung, Marke Selbstversorger-Bauernhof, hat das allerdings nichts zu tun. Adonis lebt und schreibt gegen die »Gewöhnung« an die selbstverständlich gewordene Technisierung der Welt, die dem Menschen keinen Platz mehr lässt. Wie alles einmal anders war, dafür stehen die Jugendjahre von Ali Ahamd Esber, der sich mit 17 Jahren das Pseudonym Adonis zulegte. Er ist im ländlichen Syrien der dreißiger und vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts aufgewachsen. Damals gab es keine Elektrizität, kein fließendes Wasser, keine Technik. Man musste nicht hungern, lebte mit den Jahreszeiten. »Gab es kein Fleisch, gab es Früchte. Gab es keine Früchte, gab es Kräuter«, erinnert sich der Autor. Als Kind habe er sich wie ein Stein, wie eine Quelle gefühlt. Von seiner Mutter, die im vergangenen Jahr 100 wurde, sagte Adonis, dass sie die Welt wie ein Baum verstehe, ohne lesen und schreiben zu können. Das Wort »Schwierigkeit« würde für sie nicht existieren. Das sei ein moderner Begriff. Zurück zur Idylle der Kindheit? Für Adonis keine Lösung. Dazu ist er zu sehr ein Anhänger der Moderne, für die stetige, aber konstruktive Weiterentwicklung. Von der Globalisierung hält er allerdings nichts. Das sei für die arabische Welt ein fataler, unaufhaltsamer Prozess.

»Heute genügt die Kritik an den Zuständen der Welt nicht mehr, vielmehr geht es darum, eine tiefgreifende Verbrüderung des Menschen mit dem Unbekannten und der Unendlichkeit des Seins zu begründen.« Ein utopisches Programm, im Westen und Osten unter Intellektuellen und Schriftstellern nur mehr schwer zu finden. Vielleicht liegt es am Mangel der Erfahrung von einem Paradies, von denen es heute vielleicht immer weniger gibt. Aber gerade diese Erfahrung machte aus Adonis einen Zauberer.

Adonis: Ein Grab für New York. Ammann, Zürich 2004, 160 S., 24,90 Euro