Hirse ohne Mehrwert

Nach heftigen Protesten sah sich die Regierung Nigers gezwungen, die Mehrwertsteuer zum Teil wieder abzuschaffen. von bernhard schmid, paris

Ein teures Leben können sich die meisten Menschen im Niger nicht leisten. Nach Angaben des UN-Entwicklungsprogramms UNDP handelt es sich um das ärmste Land der Erde. 63 Prozent der elf Millionen Einwohner leben von weniger als einem Euro am Tag. Gegen die Pläne der Regierung, Güter des Grundbedarfs mit einer Mehrwertsteuer zu belegen, organisierte sich eine Koalition der Vereinigungen gegen das teure Leben (Coalition des associations contre la vie chère).

Als die Regierung auf Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank am 14. März dieses Jahres eine Mehrwertsteuer in Höhe von 19 Prozent auf Wasser, Mehl, Zucker, Milch, Speiseöl und Strom einführte, brachen heftige soziale Proteste aus. Auf dem Schwarzmarkt stiegen die Preise für die Grundnahrungsmittel Reis und Hirse um 50 Prozent.

Bereits am Tag nach der Einführung der Steuer demonstrierten 150 000 Menschen in der Hauptstadt Niamey, das entspricht der Hälfte ihrer Einwohnerzahl. Eine Woche später blieben alle Läden in den größeren Städten geschlossen, am 9. April kam es zu Arbeitsniederlegungen im gesamten Land. Die Regierung, die seit 1999 wieder von Zivilisten geführt wird, ließ zu Beginn der Proteste fünf Führungsmitglieder der Coalition des associations contre la vie chère festnehmen und in fünf verschiedene Gefängnisse sperren. Die Proteste in den folgenden Wochen erzwangen die Freilassung der Verhafteten, die Anklage wegen eines »Komplotts gegen die nationale Sicherheit« wird jedoch aufrechterhalten.

Der Sprecher der Koalition, Mahamadou Arzika, bezeichnete die Revolte kurz nach seiner Haftentlassung in der französischen Zeitung L’Humanité als »Bürgerbewegung«, die sich aus Menschenrechtsorganisationen, Stadtteilgruppen und »einfachen Bürgern« gebildet habe. Die Gewerkschaften beteiligten sich nicht, sie vertreten zu enge korporatistische Interessen einer Art Arbeiterelite.

Der industrielle Sektor des Landes besteht vor allem aus Bergbauunternehmen. Nach Kanada und Australien ist Niger der drittgrößte Uranproduzent der Erde. Die Hälfte des Nuklearbrennstoffs, der in den 58 französischen Reaktorblöcken verheizt wird, kommt aus dem Staat an der Grenze zwischen der Sahara und dem Sahelgürtel. Das Uran wird hauptsächlich in zwei Bergwerken gewonnen, die von einem französisch-nigerischen Firmenkonsortium unter Kontrolle des französischen Atomkonzerns Cogema/Areva betrieben werden. In den beiden Bergwerken ist Strahlenschutz ebenso unbekannt wie Gesundheitskontrollen für die Arbeitskräfte.

Das Uranerz liefert Niger derzeit 72 Prozent seiner Exporteinnahmen. Es gibt auch Erdöl, doch der US-Konzern Exxon, der ein Monopol innehat, hält die Förderung noch nicht für lohnend. Daher muss das Land heute seinen gesamten Ölbedarf importieren, obwohl die bisher bekannten eigenen Vorräte beim derzeitigen Verbrauch die Öleinfuhr für 210 Jahre überflüssig machen würden. Die hohen Ölpreise sind auch ein Hindernis für die Entwicklung der Industrie, die bisher hauptsächlich Düngemittel für die Landwirtschaft produziert, von der über vier Fünftel der Bevölkerung leben.

Die Regierung ist auf ausländische Kredite angewiesen, die 60 Prozent der Staatseinnahmen ausmachen. Doch trotz der Abhängigkeit von Gläubigerstaaten und internationalen Finanzinstitutionen sah sie sich zu einem Kompromiss gezwungen. Am Dienstag der vergangenen Woche wurde die Mehrwertsteuer für Getreide und Milch aufgehoben, auf Strom- und Wasserrechungen soll sie erst ab einer bestimmten Höhe fällig werden. In einem »Nachdenkkomitee« soll gemeinsam mit der Coalition über alternative Einnahmequellen beraten werden.