Alle Daten sind schon da

Ihre Telefongewohnheiten sind vielleicht bald kein Geheimnis mehr. Ein Beschluss der Europäischen Union könnte die Datenspeicherung auf Vorrat möglich machen. von carsten schnober

Ein wenig für schlechte Zeiten vorzusorgen, das liegt in der Natur vieler Menschen, vom kleinen Mann bis zum Staatsoberhaupt. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) ist einer von denen, die an die Zukunft denken. Seinem Ressort entsprechend liebt er prall gefüllte Datenspeicher voller Informationen über seine Untertanen. Weil man ja nie weiß, welcher scheinbar harmlose Bürger sich als nächster als Krimineller entpuppt, will er prophylaktisch ein möglichst komplettes Profil von allen haben.

Dass Straftäter oder in dieser Hinsicht Verdächtige ihren Anspruch auf Wahrung ihrer Privatsphäre gegenüber dem Staat weitestgehend verwirkt haben, darüber sind sich alle Parteien schon einig. Doch der Innenminister geht noch einen Schritt weiter und will auch die Unverdächtigen nicht länger verschonen. In der Telekommunikation scheint sein Traum der Komplettüberwachung nicht unrealistisch. Eine »Vorratsspeicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten« wünschen sich auch viele seiner Innenministerkollegen aus anderen EU-Staaten und aus den Bundesländern.

Jene Verkehrsdaten enthalten die technischen Informationen, die bei jeder Art von Telekommunikation anfallen, also alles außer den Inhalten selbst. Das sind neben Uhrzeit und Dauer einer Verbindung die Identität beider Gesprächspartner oder, im Falle einer Internetverbindung, Server-Adresse sowie die Herkunft des Besuchers. All diese Daten sollen nach den Vorstellungen der Befürworter der Vorratsdatenspeicherung für jede Telekommunikationsverbindung eine bestimmte Zeit lang gespeichert werden.

Beim Surfen im World Wide Web reichen die Verbindungsdaten aus, um auf die Inhalte zu schließen: Ist die Adresse einer öffentlichen Homepage bekannt, lässt sich auch nachlesen, was dort steht. Von Handybesitzern könnte man anhand der Verkehrsdaten fast vollständige Bewegungsprofile erstellen. Denn ein eingeschaltetes Mobiltelefon loggt sich automatisch über die nächste Empfangsstation ins Handynetz ein und sendet regelmäßig Signale, um die Verbindung zu erhalten. Solche Funkzellen haben einen Radius von einigen Hundert Metern, abhängig von der Bebauungsdichte. Die verwendete Zelle und damit der Aufenthaltsort des Telefons gehören zu den Telekommunikationsverkehrsdaten dazu.

All diese Informationen liegen heutzutage technisch bedingt jedem Telefon- und Internetanbieter vor. In Deutschland sind diese jedoch bislang verpflichtet, sämtliche für die Abrechnung irrelevanten Daten unbesehen zu löschen. Zum Berechnen der Kosten werden bei Telefonaten lediglich die Uhrzeit, die Gesprächsdauer und die gewählte Rufnummer benötigt. Ein Internet-Provider braucht außer der Einwahlzeit nur die Identität seines Kunden. Welche Seiten dieser besucht, mit wem er chattet oder ob er File-Sharing-Börsen nutzt, darf der Anbieter nicht ohne behördliche Anweisung mitschneiden. Auch die rechnungsrelevanten Daten müssen die Provider derzeit nach spätestens 90 Tagen löschen.

Dies zu ändern und die Dienstleister zu verpflichten, die Verkehrsdaten mindestens sechs Monate lang aufzubewahren, befürwortete bereits Schilys Amtsvorgänger, Manfred Kanther (CDU). Beim großen Lauschangriff fiel dieser Wunsch jedoch ebenso einem Kompromiss zum Opfer wie beim letzten entsprechenden Versuch des Bundesrats im Jahr 2002. Auf Initiative der Regierungen Hessens, Bayerns und Thüringens forderten die Länder damals mit Schilys Unterstützung als Teil der Novelle des Telekommunikationsgesetzes eine sechs Monate dauernde Frist, in der die Anbieter keinerlei Verkehrsdaten mehr löschen dürften. Der Wirtschaftsausschuss des Bundestags sprach sich wegen der für die Firmen anfallenden Kosten jedoch gegen diesen Passus aus, so dass er schließlich nicht ins Telekommunikationsgesetz aufgenommen wurde.

Die Europäische Union macht es möglich, dass der Innenminister wieder Hoffnung auf die Komplettüberwachung schöpfen darf. Kurz nach den Anschlägen von Madrid im März 2004 legten die Regierungen Großbritanniens, Irlands, Frankreichs und Schwedens dem EU-Rat den Entwurf für einen Rahmenbeschluss vor, der verbindliche Speicherfristen zwischen einem und drei Jahren forderte. Während der Diskussion darum beschloss Italien eine bis vier Jahre währende Speicherpflicht, ein Maximum von drei Jahren hätte somit die italienischen Behörden eingeschränkt. Die niederländische EU-Ratspräsidentschaft legte im Oktober 2004 jedoch einen Entwurf vor, der statt einer Obergrenze lediglich »verhältnismäßige Maßnahmen« fordert. Er empfiehlt eine Speicherpflicht von zwölf Monaten, erlaubt den Mitgliedsstaaten aber auch kürzere Fristen oder den gänzlichen Verzicht.

Nachdem Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) ihre grundsätzliche Zustimmung zur Vorratsdatenspeicherung geäußert hatte, nahmen sowohl der Innen- als auch der Rechtsausschuss des Bundestags einen Antrag aller Fraktionen an und erklärten ihre Ablehnung. Sie forderten die Bundesregierung auf, einen entsprechenden EU-Beschluss nicht mitzutragen. Das hielt die deutschen Vertreter aber nicht davon ab, in den EU-Ratsverhandlungen auf einer Speicherpflicht von mindestens sechs Monaten zu beharren. Bis Juni geben sich die EU-Regierungen noch Zeit zum Aushandeln der Details, dann wollen sie den Rahmenbeschluss verabschieden.

Inzwischen gerät die Beschlussfindung zur Vorratsdatenspeicherung in die Kritik. Sowohl der Berichterstatter des Europa-Parlaments, Alexander Alvaro, als auch der EU-Justizkommissar Franco Frattini bezweifeln, dass der EU-Rat einen derartigen Beschluss allein fällen dürfe. Sie fordern ein parlamentarisches Mitentscheidungsverfahren über die Dauer der Speicherung und die Definition der betreffenden Daten, da diese Beschlüsse Einfluss auf den Binnenmarkt hätten. Alles, was ausschließlich Sicherheitsfragen betrifft, können die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten jedoch ohne das Parlament entscheiden.

Wie sich das EU-Parlament verhielte, würde es gefragt, lässt sich schwer einschätzen. Zwar bezweifeln die Vertreter aller Parlamentsfraktionen die Notwendigkeit der Vorratsdatenspeicherung, führen aber wie die meisten Gegner im Bundestag vor allem wirtschaftliche Argumente an. Sie fürchten, die Telekommunikationsanbieter könnten auf den Kosten für die Anschaffung und Wartung der erforderlichen Datenträger sitzen bleiben. Die Regierungen von Irland und Italien, wo ähnliche Gesetze bereits in Kraft sind, entkräfteten solche Bedenken durch finanzielle Entschädigungen.

Die Bundesregierung scheint die Vorratsdatenspeicherung bereits fest einzuplanen. Während sich unter den Ländern ohnehin nur noch Rheinland-Pfalz gegen die Pauschalüberwachung ausspricht, geht sie wohl davon aus, mit einem EU-Beschluss auch den Bundestag zur Zustimmung zwingen zu können. Seit April erfragt das Innenministerium von den Telekommunikationsanbietern bereits die zu erwartenden Kosten. Der in Deutschland größte Konzern der Branche, die Deutsche Telekom, hat im Februar bei Gesprächen mit Schily und Zypries schon die Bereitschaft gezeigt, seinen grundsätzlichen Widerstand unter Umständen aufzugeben. Das deutet auf Verhandlungen über eine finanzielle Entschädigung hin. Ob das Fernmeldegeheimnis künftig auch ohne den Verdacht auf eine Straftat aufgehoben werden darf, reduziert sich damit auf die Frage der Finanzierung.