Leere Plätze in Moskau

An den Feiern zum 60. Jahrestag des Kriegsendes in Russland wollen einige Regierungschefs ehemaliger Sowjetrepubliken nicht teilnehmen. von ute weinmann

Wenn es in Russland einen Grund zu feiern gibt, dann sicherlich am 9. Mai. Der Sieg über die deutschen faschistischen Angreifer vor 60 Jahren entwickelte sich zum wichtigsten und unumstrittenen Identifikationssymbol in der russischen Gesellschaft über alle Generationen hinweg. Die Sowjetunion konnte 1945 ihren größten internationalen Triumph feiern, doch der Preis dafür lässt sich schwerlich anders denn als eine Tragödie bezeichnen: 27 Millionen Tote und eine unbekannte Anzahl an Kriegsversehrten waren die unmittelbare Folge des deutschen Vernichtungskriegs.

Wenngleich das Wissen um diese Tatsache in der Erinnerung an den Krieg einen festen Platz einnimmt, macht doch allein die offizielle Bezeichnung als »Großer Vaterländischer Krieg« deutlich, wie sehr eine heroisierende Deutung den Geschichtsdiskurs dominiert, die für kritische Zwischentöne keinen Platz lässt. Gerade in Bezug auf die bevorstehenden Feierlichkeiten in Moskau sollen die Verdienste der Sowjetunion hinsichtlich ihrer Rolle als Befreierin im Vordergrund stehen, wobei Russland die gesamte Anerkennung in Anspruch nimmt, obwohl die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion genauso ihren Teil zum Sieg beitrugen.

Staatsoberhäupter aus über 50 Ländern werden am 9. Mai als Ehrengäste bei der geplanten Parade auf dem Roten Platz erwartet, darunter auch US-Präsident George W. Bush und Bundeskanzler Gerhard Schröder. 8 000 Zuschauer sind insgesamt geladen, davon allein 5 000 Kriegsveteranen. Mit großer Selbstverständlichkeit hatte man im Kreml zudem mit der Teilnahme aller ehemaligen Sowjetrepubliken gerechnet, bis die ersten Absagen aus dem Baltikum eintrafen.

Aus den drei baltischen Staaten hat einzig die lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga ihr Kommen zugesagt, obwohl sie als die unsicherste Kandidatin aus den drei zur EU gehörigen Ländern galt. Die russisch-lettischen Beziehungen sind bereits seit Jahren nicht zuletzt wegen der die russische Minderheit diskriminierenden Politik Lettlands gespannt, der vorläufige Tiefpunkt wurde jedoch Ende Januar bei den Feierlichkeiten zum Gedenken an Auschwitz erreicht. Vike-Freiberga überreichte dem russischen Präsidenten, Wladimir Putin, das Buch »Die Geschichte Lettlands im 20. Jahrhundert«, worin die lettische SS als Kampfeinheit gegen das »größere Übel«, nämlich die Sowjetunion, bezeichnet und die Verbrechen Stalins in den Vordergrund gerückt werden. Viktor Alksnis, lettischstämmiger Abgeordneter der russischen Staatsduma und Fraktionsmitglied der Rodina (Heimat), kommentierte die Zusage von Vike-Freiberga mit den Worten, sie komme, »um uns während der Feierlichkeiten in den mit Borschtsch gefüllten Teller zu spucken und ihre antirussischen Reden zu schwingen«.

Aus anderen Ländern wie z.B. Polen ertönte zwar heftige Kritik am Festhalten des Kremls an der Legitimität des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes, doch die Teilnahme an den Feierlichkeiten wurde nicht in Frage gestellt. Dafür musste die russische Regierung einen weiteren Affront vom ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko einstecken, der Ende März verkünden ließ, er wolle den 9. Mai zusammen mit ukrainischen Veteranen in Kiew feiern. Auch wenn dieser Wunsch verständlich ist, muss diese Begründung wohl eher als politisches Signal gedeutet werden, mit dem Juschtschenko die Eigenständigkeit der Ukraine unter Beweis stellen will.

Allerdings scheint sich Juschtschenko Anfang der vergangenen Woche zu einer versöhnlichen Geste entschlossen zu haben. Seine Pressesprecherin deutete an, es sei nach Zustimmung der ukrainischen Veteranenverbände denkbar, dass der Präsident während der Feierlichkeiten zumindest eine Stunde lang in Moskau verweilen könne.

Nach einer Reihe außenpolitischer Misserfolge Russlands in der Ukraine, in Georgien und in Kirgisien und wachsender Kritik an der Putinschen Politik aus den USA wurden nunmehr auch die Pläne für die Siegesfeiern gestört, die der internationalen Aufwertung Russlands dienen sollten. Das gilt nicht allein auf internationaler Ebene. Zunehmend stellt sich gerade die jüngere Generation in Russland die Frage, wie es so weit kommen konnte, dass die einstige Siegermacht heute im Vergleich zum ehemaligen deutschen Aggressor wirtschaftlich so schlecht dasteht und nun sogar ihre historischen Verdienste in Frage gestellt werden.

Seitdem zu Beginn dieses Jahres zahlreiche Vergünstigungen für Rentner und andere Bevölkerungsgruppen abgeschafft wurden und sich die ohnehin schwierige soziale Situation von mehreren Millionen russischen Bürgern deutlich verschlechterte, protestieren auch immer mehr Kriegsveteranen gegen die Zustände im Land. Der aus dem Altai stammende Veteran Nikolaj Protasow etwa lehnte die Verleihung der ihm zustehenden Jubiläumsmedaille zum 9. Mai als Zeichen des Protests gegen die zunehmende Armut im Land ab. Der 80jährige bezieht zwar selbst eine ausreichende Rente, sieht sich aber mit der Verelendung und Ausweglosigkeit vieler Menschen in seiner Umgebung konfrontiert. Der Nachrichtenagentur Interfax teilte er mit: »Nicht dafür haben wir gekämpft. Wir haben davon geträumt, wie reich unser Leben nach dem Krieg sein wird.«

Aber für soziale Kritik bleibt im Zuge der Siegesfeierlichkeiten ebenso wenig Platz wie für das längst überfällige Gedenken an die jüdischen Opfer der deutschen Vernichtungspolitik, die im sowjetischen und auch russischen Erinnerungsdiskurs praktisch immer nur als Sowjetbürger vorkommen, sowie für Sinti und Roma. Auch die zahlreichen Kriegsversehrten erinnerten allein durch ihre Anwesenheit an die wenig heldenhaften Seiten des Krieges, sie waren in der sowjetischen Gesellschaft immer unerwünscht und nahmen eine Randposition ein. Gleiches gilt im Übrigen auch für die aus Afghanistan oder Tschetschenien mit bleibenden Behinderungen zurückgekehrten russischen Militärs.

Durch das in Russland übliche Verschieben von Arbeitstagen, um nach Feiertagen mehr freie Tage am Stück zu erhalten, soll die Bevölkerung dazu angehalten werden, vom 7. bis einschließlich 10. Mai zu feiern. Allerdings nicht in der Moskauer Innenstadt. Diese soll in diesen Tagen nur für geladene Gäste mit speziellen Passierscheinen zugänglich sein. Die Moskauer Stadtverwaltung regte gar an, die Stadt in diesen Tagen doch besser ganz zu verlassen und stattdessen die freie Zeit auf der Datscha zu genießen.

Der für Sicherheitsfragen in der Stadt Moskau verantwortliche Nikolaj Kulikow erklärte darüber hinaus, dass einige Hauptstadtbewohner unfreiwillig die Stadt verlassen müssten. »Alle illegalen Migranten und Personen ohne festen Wohnsitz werden aus Moskau deportiert oder in spezielle Unterkünfte gebracht«, zitierte ihn die Tageszeitung Wremja Nowostej. Wie so oft dient offenbar auch in diesem Fall ein Feiertag als Vorwand für Hardliner, ihre politischen Vorstellungen in die Tat umzusetzen.