Deutschland, du Opfer!

War es ein Erfolg der Antifa, dass der Naziaufmarsch in Berlin am 8. Mai verhindert werden konnte? Oder hat sich die Linke an der nationalen Vereinnahmung des Tages der Befreiung beteiligt? ivo bozic, stefan wirner und deniz yücel im Gespräch

Ivo Bozic: Wie lautet eure Bilanz des 8. Mai?

Stefan Wirner: Die Nazis haben dumm aus der Wäsche geschaut und so was gefällt mir. Denn der Alltag in Sachsen und anderswo sieht anders aus, dort fühlen sie sich wohl und können sich ungestört bewegen. Daher ist es gut, wenn sie mal eine Niederlage einstecken müssen. Andererseits ist die Art und Weise, wie diese Niederlage zustande kam, problematisch. Dass nämlich den Nazis der Tag von einem Bündnis verdorben wurde, das von Wolfgang Thierse bis zur radikalen Antifa reichte.

Deniz Yücel: Dass die Nazis am 8. Mai verloren haben, ist nichts Neues. Die Frage ist nur: Wer hat diesmal gewonnen? War die Verhinderung des Aufmarschs tatsächlich ein Erfolg der radikalen Linken? Oder ist der Tagessieger nicht die deutsche Zivilgesellschaft, die Berliner Republik, kurz: Deutschland, das sein nationales Symbol zu schützen vermochte? Ich denke, dass die radikale Linke ausgerechnet an diesem Tag zu einem deutschen Sieg beigetragen hat, und zwar unabhängig davon, was die Leute dabei gedacht oder in ihre Aufrufe geschrieben haben.

Bozic: Die Linke hat sich an diesem Tag den falschen Gegner ausgesucht, selbst wenn es immer richtig und notwendig ist, gegen die Nazis vorzugehen. Aber an diesem Tag hätte man sich auf das schwarz-rot-goldene Gedenkspektakel am Brandenburger Tor konzentrieren müssen und es getrost dem Staat überlassen können, die Nazis kaltzustellen. Denn das staatliche Interesse, diesen Aufmarsch zu verhindern, war offensichtlich. Dafür wurde eigens ein Gesetz beschlossen. Als das nicht genügte, wurden obendrein noch geltende Gesetze gebeugt.

Yücel: Nachdem »Aufstand der Anständigen« im Jahr 2000, als der deutsche Staat mit polizeilichen und zivilgesellschaftlichen Mitteln in die Offensive gegen die Nazis ging, wurde in der Antifa darüber diskutiert, ob die Fokussierung auf die Nazis noch sinnvoll ist. Ich habe den Eindruck, dass von dieser Diskussion nicht viel übrig geblieben ist, dass man sich, sobald irgendwo Nazis auftauchen, auf die alte Maxime besinnt: »Wenn Nazidemo, dann Gegendemo.« Dabei wäre es notwendig, eine Kritik auf der Höhe der Zeit zu formulieren, die das Ganze, die Berliner Republik mitsamt ihrer teilweise veränderten Einwanderungspolitik, ihrem Vorgehen gegen die Nazis, ihrem antifaschistischen Selbstbild etc. reflektiert. Offenbar überfordert dies viele, so dass sie sich weiterhin mit den Nazis beschäftigen, während es darum gehen müsste, die Mitte anzugreifen.

Wirner: Die Bekämpfung der Nazis war eine notwendige Reaktion auf die Pogrome der neunziger Jahre. Auch das staatliche Vorgehen gegen sie hängt damit zusammen, dass Antifas und bürgerliche Gruppen immer wieder darauf gedrängt haben, dass Nazis nicht ungehindert marschieren und agieren dürfen. Immer noch werden etliche ihrer Aufmärsche verhindert, indem sich ihnen viele Leute entgegenstellen. Das halte ich nach wie vor für wichtig, weil diese Aufmärsche den Nazis auch dazu dienen, neue Leute anzusprechen und zu rekrutieren. Und mit einem erfolgreichen Aufmarsch können sie eher junge Leute, die vielleicht zum ersten Mal dabei sind, an sich binden. Ich teile aber die Kritik, dass die Berliner Republik, das rot-grüne Milieu sich dieses 8. Mai bemächtigt hat.

Bozic: Die Linke befindet sich in einem Dilemma: dass sie sich einerseits immer wieder gegen Nazis oder extreme Rechte und andererseits gegen die Berliner Republik wenden muss, was eben nicht identisch ist, sich oft sogar entgegensteht. Dennoch gibt es mindestens zwei Schnittmengen: den Antiamerikanismus, der anlässlich des Irak-Krieges offensichtlich wurde, und den sozialneidischen Antikapitalismus, den Anti-Heuschrecken-Antikapitalismus. Da sind sich der nationale Flügel und die rot-grüne Mitte einig. An beiden Punkten gibt es auch Schnittmengen mit der Linken. Die radikale Linke muss den Antiamerikanismus, der meistens als Antiimperialismus daherkommt, wie den regressiven Antikapitalismus zurückweisen und zugleich einen emanzipatorischen Antikapitalismus formulieren. Wenn sie das versäumt, gerät sie in eine weitere Schnittmenge, nämlich in die zum Liberalismus.

Wirner: Alles in allem sind die Nazis doch völlig veraltet. Sie verstehen das neue nationale Projekt nicht und erzählen immer, wie toll der Wehrmachtsopa war. Sie verstehen nicht, dass das nationale Projekt, das Schröder und Köhler vertreten, das stärkere und mächtigere ist. Auch der offizielle Geschichtsdiskurs geht einher mit der Rede von den »Bombennächten«. Ein halbes Jahr lang ging es um die Bombardierung deutscher Städte, wurden aus Wehrmachtssoldaten »Zeitzeugen«, und dennoch heißt es, der 8. Mai sei der Tag der Befreiung. Das ist das modernere Geschichtsbild.

Yücel: Man muss aber genau hinschauen, nicht mit dieser verzerrten Sicht, die unter Linken häufig anzutreffen ist, auch bei uns in der Zeitung. Wir sehen die »Bombennächte«, die Erinnerung an Dresden und skandalisieren das, wie wir auch einen Hohmann oder einen Möllemann skandalisieren. Und nur selten merkt jemand, dass wir nicht die einzigen sind, die einen Hohmann als anrüchig empfinden, sondern dass wir hierin mit nahezu der gesamten veröffentlichten Meinung übereinstimmen. Wir sehen, dass Hohmann in seinem hessischen Kaff Applaus erntet, wir übersehen aber, dass er dann aus der Bundestagsfraktion der CDU rausfliegt. Wir haben die Pogrome der frühen Neunziger nicht vergessen, tun aber so, als ob die damalige Situation in Rostock ein Dauerzustand sei. Obwohl die Nazis ihre Funktionalität, die sie damals hatten, längst eingebüßt haben. Auch in Sachen Erinnerungspolitik tun wir oft so, als würde sie von Leuten vom Schlage eines Alfred Dregger bestimmt.

Wirner: Ich behaupte nicht, dass die deutsche Geschichtspolitik sich nicht verändert hätte. Es ist richtig, dass Joschka Fischer mit seinem berühmten Satz: »Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz«, eine viel größere Leistung vollbracht hat als der Stahlhelmflügel der CDU. Genau das markiert die rot-grüne Ära. Zugleich gibt es in den Käffern und auf der Straße nach wie vor das Problem mit den Nazis, dem man sich ebenfalls stellen muss. Selbst wenn die Nazis nach der Änderung des Asylrechts ihre Rolle ausgespielt haben und seither staatlicher Repression ausgesetzt sind, erst recht durch die rot-grüne Regierung, die sie nicht so tätschelt, wie es ihre Vorgänger getan haben.

Yücel: Eine Rückkehr zur alten Bundesrepublik, zur Politik der Aufrechnung, Relativierung und Verdrängung wird es jedenfalls nicht geben, egal wer regiert. Und die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichte erfolgt nicht allein aus instrumentellen Gründen, man kann den Protagonisten der Berliner Republik ihr antifaschistisches Selbstbild durchaus abnehmen. »Unsere ganze Geschichte bestimmt die Identität unserer Nation. Wer einen Teil davon verdrängen will, der versündigt sich an Deutschland«, hat Horst Köhler am 8. Mai gesagt. Seine Rede war idealtypisch für den heutigen geschichtspolitischen Diskurs. Erst kommt das Schuldeingeständnis, der Hinweis, dass Auschwitz und der von Deutschland angezettelte Weltkrieg die Ursache für die »Leiden der Deutschen« waren, die dann ebenfalls betrauert werden.

In dem Moment, in dem die Deutschen Auschwitz nicht verdrängen, sondern immerzu darüber schwatzen, wird die Erinnerung an Auschwitz zu einer deutschen Angelegenheit. Deutschland eignet sich diese Vergangenheit und damit die Deutungshoheit über sie an. Siehe die jüngste Diskussion um das Holocaust-Mahnmal, für das man den Zentralrat der Juden längst nicht mehr braucht. Diese Vereinnahmung von Auschwitz für Deutschland ist offensiver als das frühere Verfahren.

Bozic: Das ist ja alles richtig. Aber was bedeutet es konkret? Wäre es dir lieber, wenn niemand mehr über den Holocaust spräche?

Yücel: Emanzipatorische Theorie und Praxis ist nicht denkbar ohne Bezug auf Auschwitz. Ich glaube aber, dass bestimmte geschichtspolitische Einsichten ihren kritischen Gehalt verlieren, wenn sie zum Bestandteil einer jeden Präsidentenrede werden. So jedenfalls sieht der Elitendiskurs aus, der an diesem Punkt durchaus von der Meinung der Bevölkerung abweicht.

Bozic: Eben! Die Gesellschaft ist ja gespalten. Die Berliner Republik, wie sie sich an diesem 8. Mai präsentiert hat, gibt es zum Beispiel in der Sächsischen Schweiz nicht. Dort gibt es keine Zivilgesellschaft, auf die man sich verlassen kann, und die Gesundheit und körperliche Unversehrtheit von Nichtdeutschen und Linken hängt dort vom Engagement der Antifa ab. Antifaschismus bedeutet oft nichts anderes als die Verteidigung bürgerlicher Freiheiten, wie wir das etwa auch bei der Asylrechtsänderung gesehen haben. Das ist notwendig, manchmal sogar lebensnotwendig. Deshalb führt auch weiterhin kein Weg an Antifa-Arbeit vorbei.

Die andere Frage lautet: Wie links ist das? Und kann die Linke mit ihrer Antifa-Politik eine politische Zuspitzung erreichen? Dass der so genannte revolutionäre Antifaschismus, der ein Mittel dafür sein sollte, auch allgemeine Kapitalismus- und Gesellschaftskritik zu formulieren, nicht funktioniert, hat sich schon vor Jahren gezeigt. Heute müsste die radikale Linke nicht nur den Kapitalismus kritisieren, sondern ebenso die Kapitalismuskritik. Sie steht vor der Herausforderung, sich gegen die sich abzeichnende Querfront zwischen Rot und Braun zu wappnen, die auf der Grundlage von Antiimperialismus und verkürzter Kapitalismuskritik steht, ohne dabei grün oder gelb zu werden.

Wirner: Der Antiimperialismus bzw. der Antiamerikanismus waren auch in dem Diskurs über die »Bombennächte« entscheidend. Diese Inszenierung war von einer entscheidenden neuen Qualität. Im vergangenen halben Jahr ist es der Linken nicht gelungen, in diesen Erinnerungsdiskurs zu intervenieren. Ich glaube, dass es ein Problem für die Linke wird, wenn sich Horst Köhler hinstellt und sagt: »Es gibt keinen Schlussstrich.« Vor zwanzig Jahren hätte man eine solche Aussage positiv aufnehmen können, heute aber hört sich das an wie eine Drohung. Oder, wenn die BZ zur Einweihung des Holocaust-Mahnmals schreibt, das Mahnmal sei Berlins »neue Mitte«. Die Erinnerung ist ein Teil des Projekts Deutschland innerhalb des neuen Europa. Die Kritik daran ist noch zu schwach.