Doppelte Gastfreundschaft

In Buenos Aires erinnert das Museo de la Shoá an die Opfer des Holocaust und die Rolle Argentiniens als Aufnahmeland von verfolgten Juden und deutschen Kriegsverbrechern. von jessica zeller

Bilder der Shoa – Der Holocaust und seine Auswirkungen in Argentinien« – bereits der Titel der Dauerausstellung im Museo de la Shoá lässt keinen Zweifel daran, dass den Besucher hier nicht allein eine Dokumentation über die Ereignisse im nationalsozialistischen Deutschland und den Völkermord an den europäischen Juden erwartet. Zwar werden in dem alten Backsteingebäude in der Straße Montevideo im Zentrum von Buenos Aires durch Fotos und Texte sowie durch zahlreiche Ausstellungsobjekte die Ereignisse in Europa dokumentiert, der inhaltliche Schwerpunkt wird jedoch auf die Politik Argentiniens zu dieser Zeit gelegt.

Zwischen 1933 und 1945 kamen schätzungsweise 35 000 bis 40 000 jüdische Immigranten nach Argentinien, womit das Land nach den USA und Palästina das drittwichtigste Fluchtziel war. Die Aufnahmepraxis der argentinischen Regierung war zu diesem Zeitpunkt widersprüchlich. Zum einen legte man als traditionelles Einwanderunsgland die Einreisebeschränkungen recht flexibel aus. Auf der anderen Seite herrschten auch in der La-Plata-Republik sowohl seitens des Staates als auch in der Öffentlichkeit antisemitische Ressentiments, während es gleichzeitig offene Sympathien für den wichtigen Handelspartner Deutschland gab. Diese Tendenz setzte sich auch nach Kriegsende fort. Schätzungsweise 200 deutsche Kriegverbrecher fanden, unterstützt von der Regierung Perón, in Argentinien Unterschlupf.

Für die Leiterin des Museums, Graciela Jinich, besteht die Zielsetzung der Ausstellung, die seit knapp drei Jahren zu sehen ist, gerade darin, sowohl die Widersprüche als auch die Vielfältigkeit dieser deutsch-argentinischen Geschichte nachzuzeichnen: »Wenn die Sprache auf Argentinien und den Nationalsozialismus kommt, fällt den meisten nur der Name Adolf Eichmann ein. Wir wollen in dieser Ausstellung zeigen, dass die Verbindungen zwischen Nazi-Deutschland und Argentinien schon vorher bestanden haben«, sagt Jinich. »Aber«, so ergänzt sie, »es geht uns auch darum, zu dokumentieren, dass nicht nur die Täter, sondern auch die jüdischen Immigranten eine aktive Rolle in der Geschichte in unserem Land gespielt haben. Sei es als Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland oder bereits in den Jahren zuvor als Bauern, die sich in den Provinzen im Landesinnern ansiedelten, oder als Arbeiter, die in die Streikbewegung in Patagonien zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwickelt waren.«

Mario Feferbaum, der Präsident der Stiftung Fundación Memoria del Holocausto, unter dessen Schirmherrschaft das Museum steht, meint: »Die Verflechtung von Deutschland und Argentinien offenbart sich nicht zuletzt anhand der denkwürdigen Tatsache, dass die Kriegsverbrecher, die Argentinien nach 1945 beherbergt hat, hier großteils unter ihrem richtigen Namen lebten. Ohne dass darüber je richtig gesprochen wurde, geschweige denn die dafür politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden.« Nicht zuletzt deshalb sieht er die Aufgabe des Museum auch als eine pädagogische: »Was die Schulbücher nicht leisten, bleibt uns überlassen.«

Die Idee zur Gründung des Museo de la Shoá entstand im Jahr 1993. »Wir hatten anfangs nur ein kleines Büro und waren nur sehr wenige Personen. Überlebende des Holocaust, Familienangehörige von Überlebenden, einige Vertreter der jüdischen Gemeinde. Aber uns einte der Wunsch, einen Ort, eine Institution zu gründen, die dem Gedenken an die Opfer des Holocaust und der Aufgabe gewidmet sein sollte, dass so etwas nie wieder passiert«, erinnert sich Jinich an die Motivation der Gründer. In der Anfangszeit wurde vor allem Material gesammelt, verschiedene Institutionen des Staates und der jüdischen Gemeinde wurden besucht, Veranstaltungen an Schulen organisiert und die ersten Ausgaben der Zeitschrift Nuestra Memoria (Unsere Erinnerung) herausgegeben.

Der Anlass, das Museum zu begründen, war ein beklemmender: Mit dem Terroranschlag auf das jüdische Sozial- und Kulturzentrum Amia im Jahr 1994, bei dem fast 100 Personen ums Leben kamen, war die Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus auch für die politisch Verantwortlichen nicht mehr zu leugnen. Symbolträchtig stellte der argentinische Staat am 8. Mai 1995 das Gebäude im Zentrum von Buenos Aires zur Verfügung. Nach mehrjährigen Renovierungsarbeiten wurde das Museo de la Shoá im Jahr 2000 mit einer Ausstellung über Anne Frank eröffnet.

Dass nach mehreren kleineren Ausstellungsprojekten die ehrgeizige Aufgabe einer Dauerausstellung verwirklicht werden konnte, ist dem Umstand zu verdanken, dass die Bestände der Stiftungsbibliothek eine Fülle an interessantem Material enthalten. Das Archiv besteht aus über 4000 Büchern und 300 Filmen, vor allem Schenkungen und Nachlässe von Überlebenden der Shoa. Fast täglich kommt neues Material dazu. Die Besucher sind sowohl Wissenschaftler als auch Argentinier, die sich auf die Suche nach ihrer Familiengeschichte begeben. »Es ist fast schon ein magischer Ort. Nicht nur wegen der sprachlichen Vielfalt. Neben Spanisch vor allem Jiddisch, Polnisch, Hebräisch und Deutsch. Nicht jedes Buch handelt direkt von der Shoa, es sind auch Werke klassischer Autoren dabei. Aber es gibt auch wirkliche Raritäten wie den Roman ›Die Nacht‹ von Elie Wiesel, der bereits in den fünfziger Jahren in Argentinien auf Jiddisch publiziert wurde, noch bevor er in Europa erschien. Sie erzählen uns Geschichten vom jüdischen Leben hierzulande und weltweit. Wir sehen unsere Aufgabe darin, dieses kulturelle Erbe zu erhalten«, sagt der Leiter der Bibliothek, Pablo Dreizik. Seine Kollegin Carolina Kohan meint: »Gerade die jiddischen Werke sind für mich von besonderem Interesse. Denn kaum jemand weiß heute, wie wichtig diese Sprache einst in Argentinien war. Noch bis in die siebziger Jahre erschienen hier zwei jiddische Zeitungen.«

Ohne die zumeist ehrenamtliche Unterstützung zahlreicher Wissenschaftler und von Überlebenden der Shoa wäre die Katalogisierung des Materials wohl kaum möglich. Einer von ihnen, David Weinstock, kommt fast täglich. Er ist Kohan und Dreizik dabei behilflich, deutsche, polnische, hebräische und jiddische Texte zu erschließen und zu übersetzen. Sein Kommen kündigt er stets von Weitem an: Der 82jährige Mann mit weißem Haar und wachem Blick pflegt im Flur des Gebäudes der Stiftung zu pfeifen.Er ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg nach Argentinien emigriert, gebürtiger Pole und Überlebender verschiedener Konzentrationslager in Osteuropa. Die Befreiung erlebte er am 9. Mai 1945 in Theresienstadt.

Wenn er heute von dieser Zeit spricht, so scheint die Erinnerung für ihn vor allem in den Liedern der Zeit erhalten geblieben zu sein; in alten jiddischen Lieder einerseits und in den Märschen, die er als Zwangsarbeiter singen musste, andererseits. Seine Mitarbeit an der Gedenkstätte begründet er so: »Wer, wenn nicht ich, kann über Argentinien und Deutschland aufklären? Schließlich habe ich ja beide Länder erlebt.«