Ein Mahnmal zum Knutschen

Spielende Kinder, Picknickstimmung und ein bisschen Erinnerung. Das Holocaust-Mahnmal ist eröffnet. Einen Spaziergang durch Deutschlands neuesten Freizeitpark unternahm sonja fahrenhorst

9.25 Uhr

In 35 Minuten öffnet der »Ort der Information«. Die Besucher stehen bereits an, einige mit Kaffeebecher und Brötchen in der Hand. Der Mann vom Reinigungsdienst, bekleidet mit einem gelben T-Shirt und einer blauen Latzhose, geht durch das Stelenfeld und sammelt mit einem Greifer den herumliegenden Müll ein. In den blauen Sammeleimer schmeißt er Apfelbutzen, gebrauchte Taschentücher und vor allem Zigarettenkippen. »Die Besucher sind im Großen und Ganzen schon ordentlich«, sagt er. »Nur die leeren Weinflaschen von den Besuchern der Diskothek Felix, neben dem Hotel Adlon, nerven.« Wenn die Jugendlichen abends feiern, liegen morgens schon mal Flaschen zwischen den Stelen. So wie heute.

10.10 Uhr

Familie M. aus Weilheim ist gerade angekommen. Herr M. programmiert sein Handy. »Rückruf auf Memory geschaltet«, meldet er seiner Frau. Die zwei Kinder sitzen auf einer flachen Stele. Ihre Pulloverärmel sind am rechten Arm hochgekrempelt. Frau M. schreibt identische Nummernreihen auf die nackten Unterarme ihrer Kinder. Dann steckt sie ihr Handy in die Brusttasche ihres Sohnes. Die Kinder rennen jauchzend los ins Stelenfeld.

»Wenn irgendwas ist, sollen die Kinder einfach anrufen. Sie haben ja die Handynummer auf den Armen«, erklärt Frau M.

10.30 Uhr

Manfred P., 54, stützt sich mit dem linken Fuß auf einer halbhohen Stele an der Leipziger Straße ab. »Ich fotografiere die interessante Kombination aus Steinen und Hintergrund, was immer das ist. Die Kulisse halt. Es könnte besser beleuchtet sein. Aber man muss es eben nehmen, wie es kommt«, sagt er, während er mehrere Male hintereinander auf den Auslöser drückt. »Ich hab’ das Mahnmal jetzt zum ersten Mal in der Realität im Blick und kann eigentlich wenig sagen. Ich find’s jetzt nicht schlecht, obwohl es sehr abstrakt ist und mehr einen ästhetischen Anklang macht. Aber ansonsten ist es auf jeden Fall besser als diese klassischen Denkmäler mit heldenhaften Personen drauf.«

11.40 Uhr

Schüler der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin drehen an der Treppe eines Notausgangs einen Kurzfilm, der keine konkrete Handlung hat. »Der Film soll eher abstrakt sein«, erklärt die Regisseurin. »Es wird ein Film sein, der eher auf dem Ton basiert.« Der Tonmann steht auf der Treppe und kontrolliert den Sound, neben ihm kniet der Kameramann. Der männliche Darsteller in Anzug und seine Kollegin im kurzen Rock proben schon mal. Dabei starren sie mit ausdruckslosen Augen auf einige der 2711 Betonstelen vor ihnen und sprechen mit monotonen Stimmen ihren vorbereiteten Dialog.

Sie: »Immerhin, nach einer Weile …«

Er: »Nach einer Weile …«

Sie: »Geschah etwas.«

Er: »Ja, nach einer Weile geschah etwas.«

Sie: »Etwas Stilles.«

Er: »Nein, es war nicht still.«

Sie: »Etwas Schreckliches.«

Er: »Ja. Etwas Schreckliches, das uns näher kam.«

Sie: »Ja, in der Tat, ich erinnere mich. Etwas Schreckliches.«

12.20 Uhr

Zwischen den Stelen streitet Familie S. über den Zeitpunkt des Mittagessens.

Mutter: »Wir können doch auch später zusammen essen gehen.«

Tochter: »Nein, ich hab’ jetzt schon Hunger.«

Mutter: »Ne, also komm. Es ist zwanzig nach zwölf.«

Tochter: »Mittagessen isst man eigentlich immer Punkt Mittag.«

Vater: »Denk bitte daran, dass es auch noch Abendbrot gibt.«

13 Uhr

Herr Wolfgang P. aus Bayern sitzt auf einer Stele, isst ein Käsebrot und blickt dabei auf das ihn umgebende Mahnmal: »Es ist beeindruckend, aber es ist sehr kühl. Du merkst die Kälte des Betons, irgendwie. Ich war da jetzt nicht bedrückt, wo ich durchgegangen bin. Beeindruckend ist aber die Masse von diesen Denkmälern. Von der Höhe her, da san’s drei oder vier Meter hoch.«

13.16 Uhr

Am Gedenkstättenportal des unterirdischen »Orts der Information«, wo die Besucher sich über aktuelle Geschehnisse an historischen Stätten sowie über Forschungseinrichtungen in ganz Europa informieren können, stehen zwei alte Damen vor der Datenbank mit Namen von Opfern des Holocaust.

Die Dame mit den rot gefärbten Haaren liest vom Computerbildschirm ab: »Die Namensdatenbank der Opfer des Holocaust. Ich nehme an, hier kann man nach Angehörigen suchen.«

Die andere Dame meint: »Dann möchte ich nach einer Angehörigen suchen. Glauben Sie, dass aus Oberschlesien auch Daten da sind?«

Eine Angestellte hilft den beiden, den Ort in Oberschlesien anzugeben, zu dem die gesuchte Person deportiert wurde. Es werden über 1 000 Treffer angezeigt. Die Angehörige ist darunter. Die beiden Frauen lassen sich den Eintrag in der Deportationsliste ausdrucken.

14.10 Uhr

»Alle halten sich am Hemdzipfel und gehen Bea nach!« ruft Redakteur Michael M. von der ARD. Die Tigerentenreporter, vier zehn- bis zwölfjährige Kinder aus verschiedenen Berliner Stadtteilen, setzen sich in Bewegung, der Kamera- und der Tonmann folgen ihnen. Für den »Tigerentenclub« werden sie heute eine Reportage über das Mahnmal drehen.

Michael M. erklärt: »Das ist ein Versuch, den Jugendlichen oder den Kindern auch mal klar zu machen, was es da für Sachen gab und warum das Ding hier steht. Das funktioniert sehr gut, weil die Leute auch viel besser reagieren auf Kinder. Die kriegen ganz andere Sachen raus, als wenn da ein Erwachsener hingeht. Und die Kinder sind selbst sehr interessiert und begeistert.«

14.35 Uhr

Zwei ältere Frauen gehen die an das Mahnmal grenzende Hannah-Arendt-Straße entlang und sehen sich dabei nach allen Seiten um.

Erste Frau: »Es gibt hier nichts zu sehen.«

Zweite Frau: »Dann werd’ jetzt mal konkret. Wo wollen wir hinlatschen?«

14.50 Uhr

Soeben haben die Tigerentenreporter eine Reisegruppe aus Schwaben interviewt. Danach ist die Aufregung in der Gruppe groß:

»Die ham doch die Glocken runter, Peter!«

»Das war doch nicht die katholische Kirche!«

»Aber sie haben doch mitgespielt.«

»Na, also Leut’, das kann man so nicht sagen … das Volk hat mitgespielt und die Kirche hat auch mitgespielt.«

»Also, die Kirche hat sie nicht runter! Die Nazis haben sie runter!«

»Wer hat die Kirchensteuer eingeführt?«

»Adolf Hitler!«

»Adolf Hitler hat mit dem Papst Pius XII. einen Deal gemacht.«

»Das müsst ihr euch mal reinziehen.«

»Drum sind wir das einzige Land mit Kirchensteuern. Drum muss jeder Bischof auch immer runter zum Stoiber, wenn der was will.«

»Net nur die Glocken, da sind auch andere Sachen weggekommen.«

»Ja, das alles weiß keiner.«

»Es ist eben wichtig, dass sie das in der Schule durchnehmen. Aber es ist halt so: Wenn sie zum Beispiel in der fünften Klasse mit dem Sexualkundeunterricht anfangen, dann bleibt keine Zeit.«

15.20 Uhr

Ein junger Mann steht auf einer vier Meter hohen Stele und grinst hinunter. Unten auf den Steinen liegt eine Frau mit dem Rücken auf dem Boden und hält einen Fotoapparat in Richtung ihres Begleiters.

Frau: »Jetzt!«

Der Mann springt in hohem Bogen über sie auf eine benachbarte Stele. Die Fotografin drückt wiederholt den Auslöser.

Frau: »Mist, ich glaub’, ich hab’ dich nicht richtig gut erwischt.«

Das Handy klingelt.

Die Frau guckt auf das Display: »Es ist mein Ex!«

Mann: »Don’t take it, Baby!«

Frau: »O.K. Lass uns weitermachen.«

Der junge Mann springt wieder zurück auf die andere Stele, die Fotografin knipst weiter.

16.40 Uhr

Der genervte Sicherheitsbeamte kommt zügig auf eine Stele zugelaufen, auf der ein Jugendlicher hockt und ein Objektiv auf seine Kamera schraubt.

Sicherheitsbeamter: »An jedem Eingang haben sie eine Hausordnung, wo es drinnen steht, dass das nicht geht.«

Jugendlicher: »Ich hab’ hier nicht so ’nen klaren Eingang gesehen.«

Er packt seine Kamera wieder ein und rutscht sich an der Stele hinunter.

Sicherheitsbeamter: »Das ist auch Sinn und Zweck der Sache, aber an jeder Ecke gibt es ’ne Hausordnung.«

Jugendlicher: »Das ist ja schön für die Ecken.«

17 Uhr

Das Lehrerehepaar G. hat sich in der letzten Stunde einen Eindruck vom Stelenfeld verschafft.

Frau G.: »Wenn Sie meine Meinung hören wollen, ich finde, es ist gut und sehr gelungen. Denn ich habe den Eindruck, dass es in der Dimension hier auch dem Anlass gerecht wird, ich meine, die große Zahl von Juden, die ermordet wurden. Es wirkt ja auch ein bisschen bedrückend mit den Säulen. Die erinnern mich ja auch so ’n bisschen an Särge. Und die Farbe ist auch angemessen.«

Herr G.: »Ja, das ist schwer zu verdeutlichen, was da passiert ist.«

Frau G.: »Ich denk’, wegen den Kindern, die da ’rumrennen und hier Verstecken spielen, da müssen die Erwachsenen sagen, wie sie sich verhalten müssen. Oder es sind ja auch Schulgruppen da, da müssen eben die Lehrer sagen, wie man sich verhält. Ich bin auch Lehrerin, ich würde das auch als meine Pflicht ansehen. Sonst gibt’s ja auch die Ordnungskräfte, die das unterbinden. Aber vielleicht wird sich das auch noch geben.«

Herr G.: »Das wird sich einspielen.«

Frau G.: »Andererseits wird man es nicht verhindern können, dass die kleineren Kinder da ’rumrennen. Die erfassen doch gar nicht, was das bedeutet.«

Herr G.: »Die erfassen das nicht. Wenn die Kinder in der Kirche sind, da ist es ähnlich. Die sind ja auch nicht bereit zu erfassen.«

Frau G.: »Nein, aber man muss ihnen dann sagen, dass man auch mal einen Augenblick still sein muss und man hier nicht ’rumklettert. Der Kleine da hüpft schon die ganze Zeit hier ’rum. Wo gehört denn der eigentlich hin?«

Frau G. geht auf den Mann zu, der in der Nähe des Jungen steht.

Frau G.: »Sie können doch dem Kind sagen, dass es nicht so ’rumspringen soll. Ich find’s nicht gut.«

Begleitperson: »Das seh’ ich anders.«

Frau G.: »Ich glaub’, andere finden es auch nicht gut. (zum Kind) Du kannst woanders klettern. Es gibt so viele Gelegenheiten.«

Herr G.: »Es gibt so viele Abenteuerspielplätze. Da braucht man nicht das Stelenfeld dafür zu nehmen.«

Frau G.: »Geh’ mit deinen Eltern irgendwohin, mach einen Ausflug, da kannst du klettern, so viel du willst. Aber nicht hier, das muss nicht sein.«

Die Begleitperson wird langsam wütend : »Ich seh’ das gar nicht so. Ich denk’, dass Kinder damit gar nichts zu tun haben. Und die Unbefangenheit eines Kindes, mit der es dem Mahnmal gegenübertritt, ist auch ’ne Art, damit umzugehen. Oder möchten Sie es ihm erklären, was dahintersteht? Ich bin auch nicht der Vater. Es ist o.k., wenn man so was hier hinsetzt, aber man muss jetzt hier nicht in eine aufgesetzte Befindlichkeit verfallen. Es ist ein öffentlicher Platz. Ich weiß auch nicht, ob es diesem Platz gut tut, wenn dann hier Friedhofsstille oder Andacht herrscht.«

17.15 Uhr

Ein älteres Ehepaar spaziert an den Stelen entlang.

Mann: »Ist das Sinn und Zweck, dass die Stelen alle so schief stehen? Die haben wahrscheinlich kein Geld mehr gehabt, um den Boden zu begradigen.«

Frau: »Nein, ich sag’ dir, die sind mit Absicht so schief. Guck! Unterschiedlich groß sind sie auch.«

Mann: »Die haben das falsch gemacht.«

Frau: »Nee, der Untergrund ist ja überall schief, Erhard. Die sind alle schief.«

Mann: »Naja. Das Wasser muss ja auch irgendwie ablaufen.«

18 Uhr

Ein Krankenwagen ist gerade angekommen und parkt am Rande des Stelenfelds. Die Schüler der Klasse 6a der Gesamtschule Niederbiba reden aufgeregt durcheinander, während der Lehrer versucht, die Gruppe abzulenken.

Lehrer: »Guckt euch jetzt mal um, in einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier, zur Besprechung.«

Die Schüler reagieren nicht und unterhalten sich weiter aufgeregt miteinander.

Ein Schüler sagt zu seinem Freund: »Der ist ’rumgelaufen wie ein Assi, und dann ist es passiert. Er läuft so um die Steine ’rum, dann stolpert er, und volle Pulle mit der Nase an die Kante von dem Stein. Hat voll das Loch von hier bis hier.«

Er beschreibt mit seinem Finger eine Linie von seiner Oberlippe bis zur Nasenspitze.

19 Uhr

Backenzahnaffäre: »Wer sprach mit wem?« lautet die Schlagzeile des Berliner Kurier, der auf dem Verkaufstisch neben der Warteschlange am Ort der Information liegt. Die Titelseite zeigt ein Foto von Lea Rosh.

»Im Grunde genommen hat Zarathustra eine ambivalente Einstellung. Er hasst ihn einerseits und beneidet ihn andererseits. Und insofern ist Zarathustra auch kein Übermensch. Zum Beispiel empfindet er Neid.«

Neben dem Tisch stehen zwei junge Männer in der Schlange und philosophieren. Der eine hat ein russisches Buch unter dem Arm.

»›Übermensch‹ ist übrigens auch ein sehr unglücklicher, schlechter Ausdruck. Das verleitet dazu, dass man denkt, der neue Mensch sei etwas Überlegenes, etwas Besseres. Und das ist ja so nicht gemeint.«

»Das gefällt mir auch nicht, dieses Wort. Es ist sehr arrogant.«

»Dieser Superhumanismus: Man muss ein schlechtes Gewissen haben, wenn man was Schlimmes gemacht hat.«

»Ich bin der Einzige, ich bin im Zentrum. Nur ich existiere in meinem Leben. Das ist falsch. Man ist nicht alleine.«

»Man ist auch immer Teil von etwas anderem.«

»Genau. Man kann nicht alleine leben. Keiner kann das, und ich auch nicht.«

22 Uhr

Katrin vom Niederrhein und Manuela aus Nürnberg kommen vom Abendessen am Postdamer Platz und unternehmen einen »Verdauungsspaziergang« über das Stelenfeld. Von der Beleuchtung sind sie begeistert. »Es ist wirklich ein anderer Ort in Berlin. Die Stadt kann froh darüber sein«, sagt Manuela.

Katrin ist der gleichen Meinung: »Es bringt ’ne Stimmung rüber, die ein bisschen ans Innere geht. Eine gewisse Traurigkeit, aber man sieht den Himmel. Bewegend finde ich das. Sicher spielt da auch von der Geschichte was rein.«

3.05 Uhr

Für das Mahnmal ist ein neuer Tag angebrochen. Zu dieser frühen Stunde ist hier niemand zu sehen, keine Besucher, kein Wachpersonal, keine Flaschen werfenden Teens von der Disco gegenüber. Es ist völlig still, bis auf der Leipziger Straße ein weißer VW-Bus mit lauter Musik vorbeifährt. »Yeah!« brüllt eine Männerstimme aus dem Auto. »Wie schön!« Dann ist wieder Ruhe.