Gracia, Kiew

Song Contest in der Ukraine

Irgendwo auf diesem Kontinent und selbst von Awacs-Aufklärungsflugzeugen der Nato noch immer unentdeckt, muss es ein musikalisches Terror-Camp geben, in dem sich alljährlich die Komponisten treffen, um den nächsten Song Contest vorzubereiten. Im vergangenen Jahr dürfte sich die Fraktion jener durchgesetzt haben, die türkische Klänge in beinahe jeden Song integrieren wollten, in diesem Jahr offensichtlich die bislang nur als Splittergruppe in Erscheinung getretene Fraktion der Percussion-Freaks. Denn kaum ein Song beim diesjährigen Eurovisionsgejaule kam ohne den beinahe ekstatischen Einsatz von Trommeln in allen Aggregatzuständen aus. So droschen etwa die Rumänen mit ihrem Song heftig auf alte Ölfässer ein, die Moldawier schleppten eine riesige Trommel auf die Bühne von Kiew; die serbisch-montenegrinischen Backstreet-Boys setzten sich ebenfalls an die Schlaginstrumente.

Dass letztlich die griechische Sängerin Helena Paparizou mit ihrem Song »My Number One« trotz weitgehender Trommelabstinenz gewann, liegt vermutlich lediglich an der Choreografie des Songs. Musikalisch eher ein Outsider und dennoch brillant vorgetragen war die ruhige Ballade »Angel« von Chiara aus Malta. Der große rote singende Fleck von der kleinen Mittelmeerinsel überzeugte durch stimmliche Überlegenheit und durch eine fast vollständige Vermeidung jeder wie auch immer gearteten Bewegung auf der Bühne. Platz zwei immerhin!

Schön auch, dass die von Bürgerkrieg und verpatzter europäischer Integration geschundenen Staaten des Balkans zusammenhielten und sich gegenseitig mit Punkten überhäuften, insbesondere die abbaartige Performance dreier bosnischer Blondinen relativ hoch voteten, wiewohl auch die ihre Trommeln scheinbar in Sarajevo vergessen hatten.

Für Deutschland dagegen gilt weiterhin: Eigentlich wäre man längst aus dem Wettbewerb geflogen, wäre Deutschland nicht einer der vier größten Nettozahler für das Spektakel; daher ist man automatisch dabei, selbst wenn man sich mal entscheiden würde, bloß zwei stinkende Pantoffeln zu dem Wettsingen zu entsenden. Die »Deutschland sucht den Superstar«-Kandidatin Gracia vermittelte dem Publikum mit ihrem Song »Run and Hide« genau diese Botschaft. Irgendwie entstand der Eindruck, dass es zwischen Partitur und stimmlicher Umsetzung eine unüberwindliche Distanz gebe. Lediglich die Monegassen – wahrscheinlich in memoriam ihrer gleichnamigen und ungleich toteren Fürstin – und die Moldawier gaben Gracia jeweils zwei Punkte. Letzter Platz!

Dennoch war gerade diese 50. Ausgabe des Song Contest ein wunderbares Lehrbeispiel für die Harmoniebedürftigkeit von Staaten, die sich nach Europa sehnen und trotzdem niemals EU-Mitglied werden. Die Ukraine nämlich inszenierte den Song Contest, als wäre er die einzige Möglichkeit, den Menschen in der EU zu zeigen, wozu man als postsowjetisches Katastrophengebiet imstande ist. Selbst der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko musste nach der Show noch auf die Bühne schlurfen, um Helena einen »Preis der Ukraine« zu übergeben: 700 Gramm Gold in Form einer riesigen seltsam geformten Medaille, die ehemalige »Helden der Sowjetunion« so ähnlich heute noch im Einbauschrank ihrer Wohnung herumliegen haben. Gracia, Kiew.

marcel noir