Bist schwul oder was?

Auch nach seiner Verhaftung verweigert der schwule anarchistische Aktivist Mehmet Tarhan den Militärdienst. Seine Lage ist bedrohlich. von deniz yücel

Allzu viele Möglichkeiten, sich dem Militärdienst zu entziehen, gibt es in der Türkei nicht. Im Gegenteil, selbst wer es schafft, sich vor dem Dienst am Vaterland und den Schlägen und Schikanen zu drücken, ohne die kein Wehrpflichtiger davonkommt, kann sich noch im Alter nicht sicher fühlen. Weder ist ein Ersatzdienst vorgesehen, noch gibt es eine Altersgrenze. In vielen Dörfern und Stadtteilen weiß man von einem Onkel zu erzählen, der noch im Alter von 50 oder 60 Jahren einrücken musste.

Einen anderen Weg wählten Anfang der neunziger Jahre Tayfun Gönül und Vedat Zencir aus der sich gerade entwickelnden anarchistischen Szene. In der leider längst eingestellten Zeitschrift Sokak erklärten sie, dass sie wegen politischer und ethischer Überzeugungen einen Dienst an der Waffe ebenso ablehnten wie andere Zwangsdienste. Weitere Aktivisten folgten ihnen.

Das war etwas völlig Neues. Lange Zeit hatte die türkische Linke allerlei Illusionen über den vermeintlich fortschrittlichen Charakter der Armee gehegt. Nach dem Putsch von 1980, als tausende Linke, die gerade als Unteroffiziere oder Wehrpflichtige ihren Dienst taten, sich an der Jagd auf die Genossen beteiligten, ohne dass es zur kleinsten Revolte innerhalb des Apparats gekommen wäre, verflüchtigte sich dieses Trugbild allmählich. Doch Folgen hatte dies nicht. Im Krieg gegen die kurdische PKK waren wieder Linke (und Sympathisanten der PKK) dabei, als es darum ging, Militante zu töten oder sich von ihnen töten zu lassen.

Der Plan der türkischen Antimilitaristen sah daher so aus: Sie verweigern den Wehrdienst, der Staat, der die zweitgrößte Armee innerhalb der Nato unterhält und in dem die Armee als heilig gilt, lässt sich einen derart unerhörten Frevel nicht gefallen und buchtet die Leute ein, sie leisten im Knast weiter Widerstand, während die Aktivisten draußen das Thema in die Öffentlichkeit bringen, was andere dazu ermutigt, dem Beispiel zu folgen. So schön und kühn der Plan war, so banal war sein Scheitern. Denn der Staat tat einfach nichts, außer die Medien dazu anzuhalten, diese Dinge zu verschweigen. Wirklich verwunderlich war dies eingedenk von offiziell 200 000 Wehrflüchtigen allerdings auch nicht. Mitte der neunziger Jahre wurde Osman Murat Ülke vom Verein der Kriegsgegner Izmir verhaftet und verbrachte insgesamt zwei Jahre im Knast. Doch irgendwann ließ man ihn einfach laufen. Andererseits fiel auch die von den Aktivisten erhoffte Massenbewegung gegen den Militärdienst aus.

Rund siebzig Kriegsdienstverweigerer gibt es derzeit. Zu ihnen gehört der schwule Anarchist Mehmet Tarhan, der vor vier Jahren erklärte: »Ich verdamme jede Art von Gewalt und bin überzeugt, dass jede Beteiligung an oder Verharmlosung von Gewalt nur zu neuer Gewalt führt.« Mitte April wurde er verhaftet und sitzt seither im Militärknast von Sivas.

Schon bald erwies sich die nahe liegende Befürchtung, dass er als schwuler Kriegsdienstverweigerer das Schlimmste zu erwarten habe, als wahr. Seine Anwältinnen berichten, dass er von Mithäftlingen geschlagen, erpresst und sogar mit Waffen bedroht wurde, während die Knastleitung die Übergriffe duldete oder gar dazu anstiftete. Inzwischen sitzt er in einer Einzelzelle, seine Gesundheit ist schwer angeschlagen, seine Zukunft unklar.

Osman Murat Ülke glaubt, dass Tarhan zufällig verhaftet wurde. Dennoch sei der Zeitpunkt fatal: »Kaum dass der Türkei der Termin für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen genannt wurde, hat sich hier die politische Situation völlig verändert. Wir erleben eine nationalistische Welle, die Rede von Demokratie und Reformen ist verschwunden, es regiert die Reaktion.«

Einen allzu großen politischen Kampagnenerfolg erwarten die Antimilitaristen nicht. Aber Mehmet rauszuholen, ist Grund genug für eine Solidaritätskampagne. Und Grund genug, die Türkei härter anzupacken.