Ein Heim für Arme

Brasilien hat eine der höchsten Inhaftierungsraten der Welt, immer mehr Frauen und Minderjährige landen im Knast. Von jadranka kursar, rio de janeiro

Mehr oder weniger sind es in Brasilien stets die gleichen Leute, die im Knast landen: Fast alle kommen aus armen Verhältnissen, zwei Drittel der Inhaftierten haben eine dunkle Hautfarbe, nahezu 80 Prozent können nicht lesen und schreiben, und mehr als die Hälfte ist jünger als 30 Jahre. Obwohl man weiß, dass die Tätigkeit für ein Drogenkommando leicht tödlich enden kann, heuern immer mehr Jugendliche dort an und übernehmen Kurierdienste und andere Hilfsarbeiten. Immer häufiger werden dafür auch Frauen eingesetzt. Jährlich werden in Brasilien rund 40 000 Menschen ermordet; auch das Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985 hat nichts daran geändert, dass das Land zu den gewalttätigsten der Welt gehört.

Ebenso sind die Verhältnisse in den Gefängnissen seither mehr oder minder die gleichen geblieben. Die Zellen sind meist überbelegt und die sanitären und gesundheitlichen Einrichtungen mangelhaft. Die Gefangenen sind Willkür und mitunter Misshandlungen ausgesetzt. Die Wärter haben kaum Sanktionen zu fürchten und verhalten sich entsprechend.

»Gesetzlich ist zwar eine Kontrolle vorgesehen«, meint der Rechtanwalt Sven Hilbig, der in Rio de Janeiro für die Menschenrechtsorganisation Justiça Global arbeitet. Jedoch funktionierten die staatlichen Beschwerdestellen nicht, und es gebe kein Vertrauen in die Polizei, die dafür zuständig wäre, den Beschwerden nachzugehen.

In den Frauengefängnissen ist die Situation etwas besser. Die Frauen werden seltener misshandelt, werden keinen Drogenkommandos zugeteilt, und hierarchische Strukturen sind bei ihnen eine Ausnahme. Eine besondere Haftanstalt ist »Talavera Bruce« in Rio, die wegen ihres sozialen Angebots landesweite Bekanntheit erlangt hat. Auch auf eine medienwirksame Veranstaltung kann das Gefängnis verweisen, die jährliche Wahl der »Miss Talavera Bruce«.

In einem großen Büroraum sitzt Sabrina Hagel und kramt aus einer Schublade alte Zeitungen hervor, die Fotos von Frauen zeigen, die sich am Schönheitswettbewerb im Knast beteiligt haben. Die Berlinerin ist eine der Gründerinnen der Knastzeitung Só Isso. Niemand ist darüber erfreut, eingesperrt zu sein, und dennoch ist sie froh, in diesem Gefängnis gelandet zu sein, in dem sie Sport treiben, sich an der der Theater- oder Tanzgruppe beteiligen oder die Bibliothek nutzen kann. Davor hat sie einige Monate im Gefängnis »Bangu 7« verbracht. »Das war die Hölle«, sagt sie. »Dort war es dunkel und dreckig, das Essen war schlecht, die medizinische Versorgung miserabel, und Aktivitäten gab es nicht.«

Obwohl sie von Brasilien nichts außer dem Flughafen von Rio gesehen hat, kann sie sich mit ihren Mitgefangenen in fließendem Portugiesisch unterhalten. Eine von ihnen, Luiza Maria, tippt in den einzigen Computer und arbeitet an der neuen Ausgabe. Für drei Tage Arbeit für die Zeitung soll ein Tag der Haftzeit erlassen werden, berichtet Sabrina. Aber an eine solche Strafverkürzung glauben die Frauen nicht wirklich, da vorzeitige Entlassungen in der Regel an den zahlreichen bürokratischen Hürden oder an fehlenden Pflichtverteidigern scheitern.

Dennoch engagieren sich die Frauen für ihre Zeitung. Soweit dies im Knast möglich ist, recherchieren die Blattmacherinnen für ihre Artikel, besorgen Beiträge von anderen Häftlingen und führen Interviews mit dem Gefängnispersonal oder anderen Gefangenen. »Die Kontaktanzeigen sind der Hit«, sagt der Gefängnisdirektor Marcus Pinhero über Só Isso, die inzwischen in einer Auflage von 1 200 Exemplaren gedruckt und in allen Gefängnissen des Staates Rio de Janeiro verteilt wird.

Sabrina trägt ein weißes T-Shirt mit einem großen »@« auf ihrer Brust, aber Internetzugänge gibt es im Knast nicht, auch Mobiltelefone sind verboten. Nach einer Revolte im Februar 2001 in São Paulo, bei der zwanzig Gefangene ums Leben kamen und die vom »Ersten Hauptstadtkommando« angezettelt worden war, um die Verlegung führender Mitglieder dieser Gefangenenorganisation zu verhindern, wurde der Besitz von Handys untersagt.

Rebellionen treten meist in Männergefängnissen auf, 96 Prozent der insgesamt 390 000 Gefangenen sind Männer. Einer Untersuchung des Soziologen Tulio Kahn zufolge hat sich der Charakter der Revolten verändert. »Früher forderten rebellierende Gefangene bessere Haftbedingungen, bei den Meutereien wurden immer wieder Gefangene von Wärtern oder Soldaten ermordet. Heute werden sie viel häufiger von Mithäftlingen getötet.«

Inzwischen werden diese Rebellionen in der Regel von bestimmten kriminellen Fraktionen ausgelöst. In brasilianischen Knästen existierten hierarchische Strukturen und Cliquen, die sich an der Art der begangenen Straftat orientierten, sagt Hilbig. Es gebe die matadores (Mörder), bei denen es sich zumeist um Auftragskiller handle, die faxinas (Putzleute), schließlich, auf der untersten Stufe, die seguros (Sicheren).

Neben diesen drei Fraktionen existiert eine Masse von Gefangenen, die direkt nach ihrer Verhaftung dem Drogenkommando »ihres« Slums zugeteilt werden, egal, ob sie mit der örtlichen Mafia etwas zu tun hatten oder nicht.

Die Slums von Rio de Janeiro sind bekannt für den Drogenhandel; nur in den USA wird mehr Kokain konsumiert als in Brasilien. Auch Sabrina wurde mit zehn Kilogramm Koks am Flughafen von Rio erwischt. Zwei Drittel der insgesamt 310 Frauen von »Talavera Bruce« sind wegen Drogenhandels eingesperrt, wie eine Umfrage der Só Isso ergeben hat. Aus diesem Grund sitzen auch 31 der 32 Ausländerinnen.

Brasilianische Frauen arbeiten oft aus Gefälligkeit oder Liebe zu ihrem Partner als Kuriere. »In Rio benutzen die Männer ihre Frauen für solche Aufgaben«, sagt Marcelo Freixo, ein Mitstreiter Hilbigs bei Justiça Global. Dass nur acht Prozent der männlichen Gefangenen Rios wegen Drogenhandels sitzen, scheint diese Ansicht zu bestätigen.

40 000 Menschen werden jährlich in Brasilien inhaftiert, gemessen an der Bevölkerungszahl ist dies mehr als irgendwo sonst in der Welt. 54 Prozent aller Inhaftierten waren bei ihrer Inhaftierung minderjährig; etwa jeder zweite, der aus dem Knast entlassen wird, kehrt früher oder später dahin zurück.

Ausgerichtet ist das Gefängnissystem darauf, die Leute wegzusperren, Maßnahmen für eine Rehabilitation gibt es nicht. Trotz der makroökonomischen Erfolge, die das Land in jüngster Zeit verbuchen konnte (Jungle World, 21/05), ist die soziale Situation der meisten Brasilianer nach wie vor schäbig. Daran haben die zwei Jahre unter Präsident Lula da Silva ebenso wenig etwas verändert, wie sie sich auf die Situation in den Knästen ausgewirkt haben.