Ein Kurde in Cannes

Auch wenn ihre Kulturobjekte und Zeitungen nicht mehr endlosen Schikanen ausgesetzt sind, halten viele Kurden die Reformen in der Türkei für eine Farce. von sabine küper-büsch, istanbul

In einem Hinterzimmer des Mesopotamischen Kulturzentrums (MKM) in Istanbul läuft der Fernseher. Die Moderatorin des kurdischen Fernsehsenders Mezopotamya TV aus Kopenhagen berichtet über die Filmfestspiele in Cannes. Im Zimmer wird gemurmelt und gekichert, als der kurdische Schauspieler Nazmi Kirik in einer Bildeinblendung auf allen Vieren über den roten Teppich krabbelt. »Na, was sucht der denn da?« fragt einer der Schauspieler aus der Theatergruppe des Kulturzentrums. »Nach Freiheit, seiner Brille, oder aber er hat Heimweh nach der Türkei«, sagt jemand. Alle im Raum brüllen vor Lachen.

»Null Kilometer«, der Film des kurdischen Regisseurs Hiner Saleem, bekam in Cannes keinen Preis. Doch allein die mit der Nominierung verbundene Anwesenheit von Hauptdarsteller Kirik bei den Festspielen versetzt die Zuschauer in dem Hinterzimmer in Erstaunen, macht sie ein wenig stolz und etwas neidisch. So weit weg erscheint Cannes für sie, dabei ist Nazmi doch einer von ihnen.

Der 29jährige Schauspieler wurde in Diyarbakir geboren. Er begann seine Laufbahn in der Theatergruppe des Mesopotamischen Kulturzentrums seiner Herkunftsstadt. In den neunziger Jahren galten diese Kulturhäuser bei der türkischen Regierung als subversive Zentren der bewaffneten kurdischen Arbeiterpartei PKK zur Verbreitung der verbotenen kurdischen Sprache und Kultur. Jeder im Umfeld der Kulturzentren wurde vom Staat als verdächtig betrachtet.

Kirik verbrachte viele Nächte in Untersuchungshaft, weil er auf MKM-Bühnen in Theaterstücken in kurdischer Sprache mitspielte. Nach sieben Monaten im berüchtigten Knast in Diyarbakir ging er 1996 nach Istanbul. Seitdem spielt er kurdisches Theater im Umfeld des Istanbuler MKM. »Für uns sind Erfolge wie der von Nazmi unglaublich wichtig und ermutigend«, erzählt die Sängerin Meral von der Musikguppe Agire Jiyan (»Feuer des Lebens«) im Café des Kulturzentrums. Die Musikerin und ihre Band gehören seit Jahren ebenfalls zu den kurdischen Barden, die vom türkischen Staat wenig geliebt werden.

In ihren Liedern geht es vor allem um die Zeit, als sich die PKK und das türkische Militär bekämpften. Dieser Krieg endete vor sechs Jahren mit der Verhaftung von PKK-Chef Abdullah Öcalan. Meral ist wie Kirik 29 Jahre alt. Ihre Jugend war geprägt von den kriegerischen Auseinandersetzungen. Der Tod einer gemeinsamen Freundin, der Theaterschauspielerin Helin, die bei einem Anschlag auf einen Bus voller Zivilisten getötet wurde, ist der Inhalt eines Liedes ihrer Band. Das harmlose Video, in dem Meral die Geschichte des Anschlags lyrisch verpackt nacherzählt und eine weiß gekleidete Schauspielerin, die Helin verkörpern soll, an einem Fluss in die Arme schließt, wollte kein türkischer Fernsehsender zeigen.

Das Istanbuler MKM liegt nicht zufällig mitten im Geschäftsviertel auf dem Istiklal Boulevard. Die Nähe zu den Auslandsvertretungen und ausländischen Kulturinstitutionen bot in der Vergangenheit oft einen zumindest symbolischen Schutz vor staatlicher Gewalt. Razzien fanden zwar immer mal wieder statt, aber es gab keine derartigen Übergriffe wie etwa gegen die prokurdische Tageszeitung Özgür Politika, die im schäbigeren und abgelegenen Viertel Aksaray ihren Sitz hat. Ihr Gebäude wurde Anfang der neunziger Jahre mit Sprengsätzen in die Luft gejagt. Das Nachfolgeblatt Yeniden Özgür Gündem hat sich inzwischen auch in der direkten Nachbarschaft des Istiklal Boulevards einquartiert.

»Wir werden unsere Stimme wohl auch weiterhin nur über Sender im Ausland hören können«, sagt Meral. Ihre Band verkauft gut an die kurdische Community in Europa, und die Musikclips laufen inzwischen auf Mezopotamya TV. Ein Grund, um als verdächtig eingestuft zu werden. Dem Staat gilt das viel frequentierte Programm aus Dänemark als Propagandainstrument der PKK beziehungsweise der im November 2003 im Nordirak gegründeten Nachfolgeorganisation Kongra-Gel (Kurdischer Volkskongress). Nachrichten von Öcalan, der seit 1999 als einziger Gefangener eine lebenslängliche Haftstrafe auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmara-Meer absitzt, werden regelmäßig von seinen Anwälten übermittelt und in den entsprechenden kurdischen Medien verbreitet. Im MKM in Istanbul findet man neben dem Fernsehprogramm des Mezopotamya TV alle entsprechenden Publikationen.

Meral ist verunsichert, als ich sie auf den von kurdischer Seite aufgekündigten Waffenstillstand anspreche. Sie druckst herum und ist nicht in der Lage, eine Meinung zu äußern. Die jahrelange Zensur hat Spuren hinterlassen. Dazu kommt die reale Angst vor gerichtlichen Konsequenzen. Denn die Regierung duldet inzwischen zwar Konzerte von Agire Jiyan und den Medien, die Kongra-Gel nahe stehen. Gleichzeitig werden Journalisten, Künstler und Musiker fortlaufend zu hohen Geldstrafen wegen »staatsfeindlicher Aktivitäten« verurteilt. Auch gegen Meral läuft ein Verfahren, da auf einem Konzert der Band staatsfeindliche Lieder gesungen worden sein sollen. Die Staatssicherheitsgerichte sind zwar wegen des ersehnten EU-Beitritts abgeschafft worden, aber es gibt noch genug Raum im zivilen Strafrecht für Zensurmaßnahmen.

Besucher am Nachbartisch haben unserem Gespräch über das Ende des Waffenstillstands zugehört. Sie mischen sich in die Unterhaltung ein. Nach Öcalans Verhaftung und dem Waffenstillstand zog sich ein Großteil der Verbände der Kongra-Gel im Jahr 2000 in den Nordirak zurück. Am Nachbartisch wird dies als Weg angesehen, eine friedliche politische Lösung zu suchen. Von der Regierung wird dies allerdings als Eingeständnis der eigenen Niederlage gewertet. Ein blasses Mädchen erzählt, dass ihr Onkel immer noch in den Bergen des Nordirak sei. Sie glaubt, dass sich die Guerilla – 5 000 bis 10 000 Männer und Frauen sollen ihr noch angehören – ohne eine Garantie auf Amnestie nicht auflösen werde.

Die türkischen Reformen seien eine Farce, betonen die Menschen in der Gesprächsrunde. Daher sei es nur eine logische Konsequenz gewesen, den einseitigen Waffenstillstand im Mai 2004 aufzukündigen. Meral wird immer stiller. Vor einem Jahr sagte sie mir, niemand wolle weiterhin Krieg, der habe den Kurden nur Unglück gebracht. Ihre Aufgabe sei jetzt, mit Liedern weiter zu agitieren.

Auf dem Titelblatt einer der Zeitschriften im Café sieht man den Außenminister Abdullah Gül und den irakischen Regierungschef Ibrahim al-Jafaari, der Mitte Mai zu einem Staatsbesuch in Ankara war. In dem Artikel steht, dass die Kurden im Nordirak Kongra-Gel zwar nicht aus den Bergen vertreiben wollen, aber beide Augen zudrücken würden, falls die türkische Armee zu Operationen dort anrücke. Meral wechselt das Thema. Kommende Woche sei Kirik aus Europa zurück, erzählt sie und lächelt, wenigstens im Kino funktioniere die Solidarität zwischen Kurden aus dem Nordirak und der Türkei.